Wichtig war: den Bart exakt zu trimmen und jeden Tag die Augenbrauen zu pflegen, penibel jedes einzelne Haar zu begutachten, auszurichten und gegebenenfalls zu kürzen. Ein letzter Blick in den Spiegel, dabei unauffällig die Brustmuskeln angespannt, leicht zur Seite gedreht. Das T-Shirt dehnte sich ein wenig über dem Oberarm. Für einen kurzen Moment zufrieden nickte er seinem gläsernen Gegenüber zu, bemühte sich um ein stolzes Lächeln, nahm sein neues Handy von der Kommode und ging hinaus.
Seit 14 Tagen war es vorbei mit der Verladestation, auf der er lange gearbeitet hatte, wo er mit dem rostigen Gabelstapler die großen Laster beladen, Palette für Palette aus der Lagerhalle hinausgebracht und surrend nach oben gehoben hatte. Bereits in den Wochen davor hatte es sich herumgesprochen, sie hatten gemunkelt und in den Zigarettenpausen misstrauisch zu den Fenstern im ersten Stock hinaufgesehen, in denen die Büros der Import/Exportfirma waren. Was die wohl wieder ausheckten? Warum in letzter Zeit wohl so wenig Schiffe über den Grenzfluss kamen und bei ihnen anlegten? Eigentlich kannte keiner der Arbeiter jemanden aus dieser Etage, der Vorarbeiter hatte seine Anweisungen bekommen und nicht mehr als nötig darüber gesprochen. Also hatten sie immer wieder missmutig brummend ihre Zigaretten ausgedrückt, noch einmal auf den sandigen Boden gespuckt und waren wieder zurück an die Arbeit gegangen.
Jetzt saß er auf der bunt bemalten Bank vor dem Gartenzaun, wie die Alten im Dorf, die vor ihren baufälligen Häuschen im Schatten hockten und den ganzen Tag dem Schwerverkehr nachsahen. Hier blieb niemand stehen, außer man hatte eine Panne oder Verwandte im Dorf. Aber wer hatte hier noch Verwandte! Die meisten Häuser standen leer, nebeneinander aufgereiht mit eingefallen Dächern und verwilderten Gärten, ein kleiner Abwassergraben aus brüchigem Beton trennte sie von der Straße, dahinter Mais- und Sonnenblumenfelder. Kaufte man im kleinen Magazin an der Abzweigung zur Verladestation eine Schokolade, war sie normalerweise bereits von einer mattweißen Schicht bedeckt.
Er nahm sein Handy aus der Hosentasche und sah auf die Uhr. Bald war wieder ein Tag vorüber, die Abendsonne spiegelte sich schon im Bildschirm. Gut, dass niemand wusste, dass er nicht mehr telefonieren konnte, da nach einigen Mahnungen sein Vertrag gekündigt worden war – das Gerät war nur mehr dazu da, um es herzuzeigen, um es auf der Hauptstraße herauszuziehen und wie selbstverständlich damit zu hantieren, scheinbar wichtige Nachrichten zu beantworten und dann wieder lässig wegzustecken. Ein Objekt der Selbstdefinition und manchmal ein Spiegel, um sich die Form der Frisur zu bestätigen. Die Kinder freute es jedenfalls, dass sie jetzt einen Erwachsenen zum Fußballspielen hatten, jedes in einem schmutzigen Dress einer Weltklassemannschaft, aber sein Lächeln war nur mehr eine Maske, wenn er sie anfeuerte oder wenn er einen kaputten Reifen an einem Fahrrad flickte und dafür bewundernde Blicke erntete. Viel war ihm nicht geblieben: das tägliche Hanteltraining, das ihn meistens ablenkte und der Blick in den Spiegel, der ihn dann wieder in die Realität zurückholte. Das Auto, auf das er gespart hatte, hatte er schon beinahe aufgegeben.
Die Busfahrt hatte über 3 Stunden gedauert. Er war erst einmal als Kind in der Hauptstadt gewesen und hatte jetzt seine Aufregung verborgen hinter einem scheinbar uninteressierten Blick aus dem trüben Fenster. Je mehr eintönige Landschaft an ihm vorbeigezogen war, desto unsicherer war er geworden: würde er seinen Cousin wiedererkennen? Könnte er ihm wirklich einen Job verschaffen? Hätte er, aufgewachsen in der öden Provinz, eine Chance in der turbulenten Metropole?
Als er nun hilflos und verloren zwischen den vielen Bussen am rissigen Asphalt des Busbahnhofs stand, schienen sich plötzlich alle seine Befürchtungen zu bewahrheiten, und er wäre am liebsten sofort wieder eingestiegen und nach Hause gefahren. Schnell zündete er sich eine Zigarette an und schlenderte zur Wartehalle. Er erkannte seinen Cousin dann aber doch sofort, und sie umarmten sich kurz und klopften sich auf die Rücken – wie echte Männer. Sein Cousin war aufgedreht und erzählte ihm hektisch, wie es weitergehen sollte: Am Montag würden sie zusammen zum Vorarbeiter gehen und dann könne er sicher gleich anfangen, die ersten Wochen würden sie zusammen bei ihm wohnen, aber er würde schon sehen, bald könne er sich etwas Eigenes leisten, mit einem Flatscreen und einer Mikrowelle und allem, was er wollte. Und dann könne er auch sicher bald die ersten Überweisungen für seine Familie machen, die würden doch sicher Geld brauchen, ach, warum fragte er denn so blöd, alle brauchten doch Geld in diesem Land. Und wer weiß, vielleicht bekäme er auch einen Job im Westen, die Firma habe auch dort Baustellen, dort war der Lohn auch deutlich höher und er könne dann noch mehr Geld ins Dorf schicken. Aber erst einmal wollte er ihm die Stadt zeigen, das Parlament, die großen Parks und die alten Mauerreste, die bei der Erweiterung der U-Bahn freigelegt worden waren – gut, dass er mit leichtem Gepäck unterwegs sei, dann könnten sie ja gleich los. Unentschlossen sah er auf die kleine Reisetasche, aber in dem Moment lachte sein Cousin kurz laut auf, rückte sich die Sonnenbrille zurecht, nahm ihm die Tasche ab und ging los. Er musste sich beeilen, mit ihm mitzuhalten, und unterwegs erfuhr er noch ein paar Details zum Leben in der Stadt: ausgehen würden sie, es gab die besten Bars und in den Clubs tanzten die schönsten Frauen, alle darauf aus, mit Typen wie ihnen zu flirten, und er würde schon sehen, die Stadt wäre das Beste, was ihm passieren könnte, bald würde es wieder aufwärts gehen, so schnell könne er gar nicht schauen, und schon hätte er ein neues Auto und eine hübsche Frau am Beifahrersitz. Kopf hoch, bratovched, alles wird spitze! Und ausgefragt wurde er, wie es denn der Familie ginge, wen es wohin verschlagen habe und ob seine Großmutter noch diese vorzüglichen Teigtaschen mache, aber meistens wartete sein Gesprächspartner die Antworten gar nicht ab, sondern zeigte ihm schon wieder etwas Neues.
Das Gehen am Asphalt und auf den unebenen Pflastersteinen hatte ihn müde gemacht, also brachten sie seine Sachen in die Wohnung, die im 12. Stock in einer Hochhaussiedlung neben einem weitläufigen Park lag. In der engen Liftkabine knarrte es bedrohlich und die Neonröhren im stickigen Flur flackerten. Sein Cousin sperrte die Tür auf, öffnete sie und schob beim Hineingehen einen kleinen Haufen Müll beiseite. Die Küchenzeile war voll mit ungewaschenem Geschirr, verkrustete Teller und verschimmelte Kaffeetassen stapelten sich in der Abwasch, und im winzigen Badezimmer bemerkte er im Vorbeigehen einen dicken braunen Rand im Waschbecken. Wahrscheinlich hatte sein Gastgeber einfach keine Zeit zu putzen, dachte er sich, und ging gähnend weiter. Im Wohnzimmer standen ein Sofa und ein großer Flachbildschirm, rundherum leere Plastikflaschen und Kleidungsstücke, so dass der Raum kleiner wirkte, als er eigentlich war. Sein Cousin war kurz im Schlafzimmer verschwunden. Die ganze Zeit schon hatte er zwischen den staccatoartig ausgestoßenen Sätzen geschnieft und sich geräuspert, hatte jeden Satz mit ruckartigen Gesten unterstrichen und sich selbst immer wieder fieberhaft unterbrochen und war dann aufgeregt zum nächsten Thema gewechselt. Du musst ja total fertig sein nach dieser Busfahrt, rief er nun aus dem Nebenraum, komm, ich hab hier etwas, das wird dir helfen, du brauchst keine Angst zu haben.
In seinem Rachen brannte es ein wenig und er versuchte, den ungewohnten, seifigen Geschmack mit einer hastig gerauchten Zigarette zu überdecken. Es war neu für ihn, aber es hatte geholfen: da der Lift nicht kam, beschlossen sie, die 12 Stockwerke zu Fuß hinunterzueilen, und es störte ihn gerade überhaupt nicht. Unten angekommen mussten sie kurz zu Luft kommen, die Hände auf den Knien abgestützt lachten sie sich gegenseitig kurzatmig an, und er merkte, wie sein Herz raste.
Als Nächstes holten sie sich zwei Dosen Bier, die sie am Weg ins Zentrum zügig austranken. Hier auf diesem Platz, erzählte ihm sein Cousin, gab es eine der ältesten Kirchen, eine Moschee und eine Synagoge, und jahrhundertelang hatten die hier nebeneinander gebetet, das war eigentlich nie ein Problem gewesen damals, zumindest erzählte man es sich so. Einmal so ein Herrscher, dann wieder einer von den anderen, er kenne sich jetzt historisch nicht so gut aus, aber der Stress sei erst vor einigen Jahrzehnten entstanden. Warum, könne er auch nicht sagen, er halte sowieso nicht viel davon, vielleicht sollten sie lieber noch ein Bier trinken.
Inzwischen war es dunkel geworden, und er war überrascht, wie schnell die Zeit verflogen war. Er war doch gerade erst aus dem Bus gestiegen, oder? Die Straßenlampen gingen an und in seinen Augenwinkeln hatte jede einzelne von ihnen innen eine bunte Corona und rundherum einen gleißenden Strahlenkranz, die beide verschwanden, wenn er hinsah. Um diesen Effekt zu beobachten, bewegte er mehrmals ruckartig den Kopf und blinzelte. Die Leute in der Fußgängerzone zogen Schlieren hinter sich her und er hatte das unbestimmte Gefühl, manche würden ihn anstarren. Sein Gesicht fühlte sich heiß an und er mahlte unablässig mit dem Kiefer. Schließlich kamen sie zu der archäologischen Ausgrabung in der Innenstadt, er hatte den doch mehrere Kilometer langen Weg kaum wahrgenommen, so sehr war er mit sich beschäftigt, und war jetzt überrascht, als sein Cousin fragte, ob er noch ein Bier wolle. Tatsächlich, die Dose war schon wieder leer, und während er sie noch ungläubig in der Hand wog und vorsichtig hin und her schüttelte stand der andere schon an einem kleinen Kiosk und kaufte zwei neue.
Eine ganze Stadt sei gefunden worden, als vor einigen Jahren das U-Bahnnetz erweitert worden sei, tausende Jahre alt, glaube er, und die Stadtverwaltung habe beschlossen, sie offen zugänglich zu machen, erzählte sein Cousin, der plötzlich wieder neben ihm am Geländer zappelte, sich immer wieder kurz hochhob und wieder fallen ließ. Hier, siehst du, hier in der Mitte sei ein großer Tempel gewesen, erklärte er, und hier, diagonal zwischen den freigelegten Mauerresten, sei die Hauptstraße verlaufen, die sehe gar nicht so viel anders aus als heute, oder? Sein Begleiter zeigte ihm mit raschen Handbewegungen ein paar Einzelheiten, aber er hörte kaum zu. Vom Gehsteig aus hatte man eine gute Übersicht über die gesamte Anlage, und staunend blickte er hinunter. Niemand zu Hause würde ihm das alles glauben, fiel ihm ein, und ungeschickt kramte er sein Handy heraus, um ein Foto zu machen. Er visierte die runde Tempelmauer an, zögerte kurz und tippte mit einem zitternden Finger auf den Auslöser. Kurz blitzte es auf, und er hatte einen winzigen Moment lang den Eindruck, es sei nicht nur eine brusthohe Mauer am Bildschirm zu sehen gewesen, sondern auch eine runde, bläuliche Kuppel. Zweifelnd sah er zuerst wieder auf das Original und dann auf den Bildschirm, aber am Foto waren nur die rotbraunen Mauerreste zu sehen. Komm, lass uns hinunter gehen, forderte ihn sein Cousin auf, und hopste bereits die Rolltreppe hinunter, schlängelte sich zwischen Menschen durch und winkte ihm von unten zu.
Auf Augenhöhe mit den alten Steinen schien alles noch einmal größer zu sein. Eine Säulenallee führte in einen großen Innenhof, dem Wohnhaus des Verwalters, wie ihm über die Schulter mit verschwörerischer Stimme eingeflüstert wurde, und neben einem freigelegten Kupferrohr stand eine Tafel, auf der in zwei Sprachen beschrieben wurde, dass es hier fließendes Wasser in jedem Haus gegeben hatte. Er musste es mehrmals lesen, bis die Buchstaben Sinn ergaben und er es verstand. Fließendes Leitungswasser, dachte er sich, das hatte es in seinem Dorf erst seit seiner Kindheit gegeben, seine Eltern hatten noch zum Dorfbrunnen gehen müssen, und selbst jetzt kam es immer wieder zu lästigen Ausfällen. Er wollte das versinterte Rohr schon fotografieren, schüttelte dann aber nur ungläubig den Kopf und wurde weitergezogen. Hier, was glaubst du, was das ist, hm, fragte ihn sein Cousin, und zeigte auf einen Raum, in dem in regelmäßigen Abständen quadratische Steine verlegt waren, die etwa 15 Zentimeter über das Bodenniveau hervorragten. Dazwischen war gleichmäßig viel Platz gelassen worden. Er begann, eine weitere Tafel zu lesen und hatte gerade realisiert, dass der Text wieder in zwei Sprachen verfasst war und er nicht eine ganze Zeile lesen durfte, sondern sich besser auf eine Spalte, am besten die mit seiner Muttersprache konzentrieren sollte, als ihm das Rätsel schon gelöst wurde: eine Fußbodenheizung! Na, was sagst du, eine verfickte Fußbodenheizung – bei uns erfrieren die Leute im Winter auf der Straße und die hatten eine verfickte Fußbodenheizung, genial oder? Sie hätten einfach Dampf unter den Fußboden geleitet, oder sei es doch heißes Wasser gewesen, er wisse es gerade nicht mehr, aber das müsse man sich vorstellen, diese Schnösel hatten es sich gut gehen lassen! Hypokaustum, presste sein Cousin verächtlich zwischen den Lippen hervor. Wieder nahm er das Handy und machte ein verschwommenes Foto, und diesmal war er sich beinahe sicher: in dem Moment, in dem er abdrückte, blitzte es nicht nur vor der Linse, sondern auch in seinem Kopf, und ganz kurz sah er einen Mann in einer weißen, mit Goldrändern bestickten Tunika vorbeihuschen. Als er aufblickte, war er schon wieder weg.
Sein Cousin packte ihn am Ärmel und zog ihn weiter, vorbei an der Therme zum anderen Ende der freigelegten Fläche, wo aus der betonierten Wand ein mehrere Meter langes, leicht rundes Mauerfragment hervorstand. Und das? Das sei das Amphitheater gewesen, und jetzt stell dir vor, sagte sein Cousin, drehte sich so, dass er ihm gegenüberstand, ihn an beiden Schultern halten und ihm eindringlich aus großen, tiefschwarz flackernden Pupillen in die Augen starren konnte, und jetzt stell dir vor, wie groß das gewesen sein muss, denk dir einfach den Kreis zu Ende! Er schüttelte ihn, so dass ihm beinahe das Handy aus der Hand fiel, ließ ihn abrupt los, drehte sich um und ging wieder zurück. Schnell machte er wieder ein Foto, und als er abdrückte, blitzte es wieder so hell hinter seinen Augen, dass es beinahe wehtat, und kurz sah er am Bildschirm verwischt und unscharf auf den Tribünen vor sich hunderte Leute aufspringen und jubeln. Hörte er sie nicht auch, ganz fern wie unter Wasser, oder wie hinter einer Tür, die gerade wieder zugefallen war?
Am anderen Ende winkte sein Cousin und er ging hinüber, vorbei an einigen Obdachlosen, die sich unter dem überdachten Teil der Ausstellung um eine Flasche Anisschnaps gesetzt hatten und sich eine Zigarette teilten. Komm, komm, hier geht’s zur U-Bahn, rief der andere, und er beschleunigte seinen Schritt. Instinktiv zog er den Kopf ein, als er in den Zugang zur U-Bahn hineinging, und drehte sich noch einmal um. Was glaubst du, warum ist das eigentlich alles 10 Meter unter der Erde, hm? Sag schon was glaubst du, hörte er hinter sich fragen, und wollte noch ein letztes Foto machen, noch einmal herausfinden, was mit seinem Kopf los war. Er konzentrierte sich kurz auf den Bildschirm, kniff die Augen zusammen und drückte ab: jetzt war der Blitz gleißend hell, und einen winzigen Augenblick lang sah er alles vor sich, die Marktstände und Fußsoldaten, die spielenden Kinder und feilschenden Händler, die schwitzenden Sklaven und rauchenden Schornsteine. Na, was glaubst du? Ich werde es dir sagen: weil sie es zerstört und dann zuerst jahrhundertelang ihren Müll darauf geworfen und schließlich Schicht für Schicht darauf gebaut haben!
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