mind the gap!

Ein Blick durch die verschmierten Fenster der einfahrenden Hochbahn hilft diesmal nicht dabei, die Situation einzuschätzen. Es gibt zwei Taktiken, und um diese Zeit sind beide riskant: Schnell einsteigen, was wegen des Drängelns an der Bahnsteigkante unangenehm war, dann nach einem freien Platz weit weg von der Tür Ausschau halten und hoffen, allein zu bleiben; oder warten, bis alle drin sind, um sich dann eine ruhige Umgebung zu suchen, sofern dies bei Schichtwechsel möglich ist, dabei aber immer der Gefahr ausgesetzt, doch keinen passenden Sitz zu finden. Und dann an jeder Station Richtung Arbeitszentrum wieder der starre, besorgte Blick aus dem Fenster, damit niemand Kontakt aufnehmen und fragen kann, ob der Platz noch frei sei – am besten war es, sich unhöflich breit zu machen, Jacke und Tasche neben sich zu legen und mit Kopfhörern Musik zu hören. Und wenn es dann passierte, dass sich jemand dazu setzte, was dann? Sich nichts anmerken lassen? Einfach aufstehen und zur Tür gehen, auch wenn man noch gar nicht aussteigen musste, dann so tun, als ob man sich geirrt hätte, auf den Kommunikator schauen und vortäuschen, eine Nachricht bekommen zu haben oder einen Fotoartikel zu lesen? Ein schwieriger Entschluss, der sich, einmal getroffen, nicht mehr rückgängig machen lässt: diese Unwiederbringlichkeit des Zustands vor dem Ja oder Nein; und die Erleichterung danach, wenn etwas entschieden ist, wenn der Höhepunkt überschritten ist, die Weggabelung hinter uns liegt, wenn es vorbei und nichts mehr zu machen ist.

Beim Einsteigen also die Entscheidung: sich zu jemandem dazusetzen und in Kauf nehmen, dass die andere Person plötzlich laut zu telefonieren beginnt oder stinkende Schuhe hat oder zu viel Platz beansprucht, so dass ein Oberschenkel über die Grenze zwischen den Sitzen hängt – oder an der Tür stehenbleiben, gestört vom ständigen Aus- und Einsteigen: das prophylaktische Baucheinziehen, wenn jemand vorbei will, manchmal ein gut gemeintes, entschuldigendes Lächeln, das dazu zwingt, wissend und freundlich zurück zu nicken. Die Entscheidung fällt auf einen Platz im mittleren Bereich des Zuges.

Wie sehr du diese Systemhaftigkeit eigentlich hasst, diesen Druck in dir, alles zu ordnen: es sind nicht nur die Fliesen am Bahnhof, auf denen du genau dein Muster gehen musst, was du nach jahrelanger Übung schon so beiläufig machst, dass es sicher niemandem mehr auffällt - du beherrschst deine Zwänge und sie dich. Aber nein, auch während der Fahrt drängt dich das rhythmische Vorbeizischen der gleichmäßigen Häuserblocks mit den tausenden Betriebswohnungen dazu, einen Takt anzunehmen, ganz diskret zu wippen und zu tippen, leicht zu klopfen und in Gedanken zu zählen.

Jetzt sitzt du also, an diesen Platz gebracht von einem winzigen Teil einer Entscheidungskette, die dich als Person ununterbrochen weiter erschafft, die dich zu dem gemacht hat, was du bist. Eine zwingende wenn-dann Logik wie ein Stiegenhaus, das immer weiter hinauf oder hinunter geht, mit Türen im Zwischenstock und Abzweigungen am Treppenabsatz, die nahtlos wieder in andere Stiegenhäuser führen, nur ein kurzes Zögern an der Schwelle. Und deine vielen Prognosen, und dann natürlich der Rückblick, die bereuten Entscheidungen, oh boy! In der Scheibe spiegelt sich ein Gesicht, dein Gesicht, sagst du dir, ichichich, das bin wohl ich.

Inzwischen hat die Hochbahn die Verwaltungsbezirke mit den klobigen Ministerien hinter sich gelassen - wie ein enger Ring umschließen sie die Frackinganlagen im mehrere Hektar großen Zentrum der Siedlung. Nur mehr die Fabriksarbeiter sitzen im Zug, der jetzt durch eine Kraterlandschaft fährt – viele kleine Erdbeben haben wieder und immer wieder Löcher im Boden aufklaffen lassen: unterirdische Vibrationen, an die die Menschen sich gewöhnt haben.

Jeden Tag fahre ich durch diese Stadt, von der Peripherie, in der die unleistbaren Einfamilienhäuser stehen, durch die grauen Wohnviertel voller Wäscheleinen, rostiger Schaukelgerüste und luftleerer Fußbälle, dann durch die sauber gekehrten und menschenleeren Verwaltungsbezirke bis ins 24 Stunden stinkende Herz mit den vielen, ununterbrochen rauchenden Schloten und den Tiefpumpen, die ständig die Erde erschlagen – in das Herz, das alle Menschen der Siedlung auf irgendeine Art verbindet.

Vorbei auch am Turm mit den schweren Fällen, den Unwilligen und Aufrührerischen, von wo noch niemand zurückgekommen ist, aber alle trotzdem genau wissen, was dort passiert; Ein gläserner, kreisrunder Turm in der Mitte für die Delinquenten, pro Zelle nur eine intransparente Wand im Zentrum des Gebäudes als Einfassung des Stiegenhauses, der Rest des Raumes halbrund und nach außen hin durchsichtig, rundherum ein konzentrischer Innenhof: nur ein paar Meter breit, umschlossen von einem weiteren Gebäude, in dem sich die Aufsicht und die Verhörzimmer befinden, die Archive und Rechenzentren. Es ist der Ort, um den sich die Gerüchte ranken und über den die Leute sich ihre Vermutungen gegenseitig bestätigen. Übertrumpfen wollen sie sich in ihren Geschichten, die sie sich hinter vorgehaltener Hand erzählen, vorsichtig und im Vertrauen: Jemand wüsste schon ganz genau, was dort passiert in diesem Gebäudekomplex, auch wenn es noch niemand selbst gesehen hat. Also aufpassen beim Lästern über die Arbeit und das Kantinenessen, Obacht beim Schimpfen über die überwachten Kommunikatoren und die bunten Nachrichten und das dumpfe Gefühl, die eigenen Gedanken wären nicht mehr privat; Vorsicht beim Beschweren über Unterschiede in den Bezirken und in den Krankenstationen. Aufgeregtes Flüstern und ein nervöser Blick über die Schulter: Wer hört mit? Wer sieht verdächtig aus, wer beobachtet, wer starrt nur scheinbar aus dem Fenster, ist aber mit einem Ohr beteiligt an den Gesprächen am Nebentisch?

Und ich, was bin ich? Ein Sklaventreiber vom Stadtrand, nahe sowohl den schönen Häusern der Besitzenden mit ihren bunten, abgesperrten Gärten als auch den grauen Siedlungen: zwischen zwei Welten. Die einen lächeln mich in den monatlichen Sitzungen herablassend aber doch wohlwollend an, weil ich ihren Reichtum vermehre aber selbst aus Schmutz bin und nach den Gasen der Abbauhalden rieche; die anderen lächeln nur während der Arbeit, wenn sie müssen – sobald wir draußen sind, übersehen und ignorieren sie mich einfach oder rempeln mich auf der Stiege an. Wenn ich dürfte, würde ich mein Rangabzeichen in der Öffentlichkeit sofort abnehmen, aber wer weiß, wann die nächste Ausweiskontrolle ist - mein vorauseilender Gehorsam verhindert den Bruch. Habe ich mir das so vorgestellt, bevor mich meine Entscheidungen an diesen Punkt gebracht haben? Nein, ganz anders hätte es werden sollen, große Pläne hattest du: ein fröhliches Kind, ein junger Mensch mit Visionen. Und kann ich jetzt noch anders, wage ich den Schritt? Als sich die Türen schließlich öffnen, steige ich entschlossen aus.

  1. Platz “wortreich” (KBW), 2015

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