Am Parkplatz vor dem verwaisten Einkaufszentrum brechen Sprösslinge durch den Asphalt und Risse durchziehen das milchig-trübe Plexiglas der Unterstände, in denen früher die Einkaufswägen standen und sich jetzt vertrocknetes Laub in den Ecken sammelt. Manchmal stocken deine müden Schritte und du verharrst auf den Zehenspitzen, unendlich angetrieben, aber wie festgeklebt, eingefroren und trotzdem wie zum Sprung bereit – geschürzte Lippen bewegen sich dann, als würden sie angestrengt trainieren. Du scheinst unbewusst zu zögern, wie ich, wenn ich ein Zündholz zum Brennen bringen will und einen Augenblick damit auf der Reibfläche verharre. Ganz entrisch werde dir da zumute an diesem seltsamen Ort, meinst du, an diesem Nicht-Ort willst du vielleicht sagen, wo man sich kaum mehr auskenne. Siehst du sie auch? fragst du mich aus heiterem Himmel mit geschlossenen Augen und forderst mich auf, es dir gleich zu tun. Das Summen einer Lieferdrohne oder einer Motorsense bildet den akustischen Hintergrund, und vielleicht beratschlagen sich da vorne an der Kreuzung in die Einbahnstraße drei oder vier mit Helmen und Waffen – schlechter Empfang, auf der Landkarten-App kollidiert an dieser Stelle ein Haus mit einer Garage und der Gehweg ist gar nicht eingezeichnet, oder ist er möglicherweise neu? Bewegt man sich die Straße entlang geht plötzlich ein Schnitt durch das Bild, und wenn man sich nach links/Richtung Süden dreht, dann…Pass doch auf, das ist ein Radweg! Das war knapp. Die Uniformierten schleichen in geduckter Haltung weiter, ihre Instrumente scheinbar immer bereit in den Händen, die hellblauen Kittel enden knapp über den weißen Pantoffeln, und schließlich verschwinden sie um die Ecke. Als wir blinzeln bemerken wir Einschusslöcher in der Wand und eventuell sogar einen ausgebrannten Lieferwagen, der mit Planen und Tüchern verhängt ist, als ob darin jemand lebe. Daneben eine Art Graffiti, eher das Echo einer Gravur, deren Kontrast sich wie ein flüchtiger Schatten in der Abendsonne abhebt:

Wir denken uns diese Welt nur aus – warum machen wir sie nicht besser?

Schritt für Schritt beginnen wir, bis du in Schwung kommst. Im abendlichen Gegenlicht zieht eine Karawane den Rücken entlang zur Hügelfestung hinauf, ein halbes Dutzend schemenhafter Figuren, die sanft wabern und schimmern – Moment, bewegen die sich überhaupt, oder sind es etwa doch Bäume und Sträucher? Und die urzeitliche Anlage ist wohl eher nur eine Ackerfurche, eine Steinmauer auf einer Schafweide, ein durch jahrhundertelange Erosion entstandenes Podest, eine natürliche Erhöhung? Die tanzenden Giganten unten am Fluss sind zufällig in einem annähernd regelmäßigen Kreis zum Liegen gekommen und keine steinernen Zeugen einer verschwundenen Gesellschaft? Oder hat da etwa ein gelangweilter Baggerfahrer nachgeholfen? Als wir weitergehen springen links und rechts Heuschrecken auf, deren scheinbar ruhige und gleichmäßige Fluchtbewegung wir wie eine belebte Welle vor uns hertreiben durch die kniehohe, ausgetrocknete Wiese. In der Hälfte der Steigung bleibst du leicht schnaufend stehen und siehst hinüber zu einem Gestrüpp am Wiesenrand, aus dem das leise Gurgeln eines Wasserlaufes kommt. Ein Blick in dein Gesicht zeigt aber, dass du gedankenverloren dastehst, mit starren Augen. Leise beginnst du zu sprechen: Etwas muss doch überliefert werden, festgehalten – wie kann es bleiben, wenn ich nicht mehr bin, und nicht weggespült werden vom Lauf der Zeit? Die Haut spannt sich über deine Knöchel, als du fortfährst: Schon weicht die Erinnerung zurück, wenn ich sie greifen will, alles entfällt mir zu schnell und hinterlässt nur einen Schatten, von dem zu vermuten ist, dass er von etwas Realem stammen muss. Wenn wir aber eine wahre Geschichte erzählen, das Erzählte einer wirklichen Begebenheit, einem selbst erlebten Ereignis nachempfinden, dann schmücken wir trotzdem immer aus und können gar nicht anders, als etwas hinzuzufügen, zu verschieben und anzuhängen, wegzulassen und abzukürzen. Bei jeder erneuten Wiedergabe, bei jeder Wiederholung glätten wir die innere Vorstellung und flechten die Vielschichtigkeit der Realität zu einem gleichmäßigen, kohärenten Strang, bis schließlich alles Sinn macht und in dieser berichteten Wirklichkeit Eines logischerweise zum Anderen führt. Es bleibt uns gar nichts Anderes übrig, um die Unsicherheit unserer Gedanken zu überwinden und unsere verworrene Perspektive auf das Erinnerte zu ordnen, um der drückenden Gefahr der Unschärfe zu entgehen. Doch diese Geradlinigkeit wird dem Leben nicht gerecht: all die Abzweigungen, die verschwiegen und vergessen werden … am Ende landet man im trostlosen Stumpfsinn, alles wiederkauend, was bereits ist – in der Hoffnung, schließlich Seelenfrieden zu finden.

Die Abendsonne wetteifert mit dem Rauchgeruch von jenseits der (Festungs)mauer, und es scheint so, als ob es langsam Zeit wäre. Drinnen erklingt ein leises Plätschern, als sie das Wasser behutsam von einem Tongefäß in ein anderes gießen, und manchmal ein sonores Klacken, wenn der Rand des mit filigranen Wellenlinien verzierten Krugs an jenen einer Schüssel stößt. Langsam und beständig kreist dort die Flüssigkeit, bis alle Rückstände weggespült sind und das zuvor glasklare Wasser eine milchig-trübe Farbe angenommen hat. Die schwache Herbstsonne scheint noch rötlich durch die Äste, deren Blätter teilweise bereits abgefallen sind, und taucht die Szene, die wir versteckt aus unserer Phantasie heraus beobachten, in ein orangenes Licht – bald würde es soweit sein. Sie warten nur noch auf den Frost, flüsterst du, damit die Steine sich leichter bewegen ließen. Ein Monument, das alle eint: heute in unserer Anschauung sowie einst bei seiner Errichtung. Eine Versammlung der versteinerten Zeit, angereist aus allen Himmelsrichtungen für das große Fest, um zu beratschlagen und tanzend das Schicksal zu wenden, denn das Hirschopfer im vergangenen Winter zur Feier der längsten Dunkelheit hatte die Geister nicht besänftigt und deshalb war auch heuer der Frühregen ausgeblieben. So sei es noch nie gewesen, sagten die Alten, der Jahreslauf ändere sich, die Wolken zögen anders, der Wind pfeife seltsam und das Wasser schmecke nicht mehr wie früher – nur mit einer großen gemeinsamen Anstrengung wäre das Unheil abwendbar. Viele Generationen werden hier bauen, des Gestein zerbrechen und zerbersten und hoffen, dass auf dem Weg keinem der Blöcke etwas geschieht. Man arbeitet aber nicht mit dem Stein, viel mehr verhandelt man mit ihm, ob er hervorkommen möge aus dem Bruch. Man wird bitten und flehen, murmeln und den Fels streicheln, die Kanten vorsichtig abflachen und die endgültige Form in großem Aufwand aus dem mühselig aufgestellten Koloss kitzeln. Wenn wir dann eine Richtung und ein Ziel in all das Erlebte gebracht haben, die vielen Möglichkeiten, Randnotizen und Nebenbemerkungen zu Gunsten einer stringenten Idee, eines charmant-überwältigenden Telos aufgegeben haben, dann können wir unsere Vorstellung endlich weitergeben und das Erzählte wird zu einem Teil von uns, wir gehen auf in der Geschichte. Was ich denke und sage wird Wirklichkeit! rufst du noch und versuchst dann leicht torkelnd die Wiese hinunterzulaufen, aber deine Schritte sind schwerfällig und zögerlich, und so habe ich dich schnell wieder eingeholt.

Die untergehende Sonne wärmt unsere Rücken und lässt deine schütteren weißen Haare leuchten, als du mit einer ungefähren Armbewegung zur Hügelkuppe zurück deutest und beginnst, die Steinhütten zu beschreiben: große Felsen als tragende Elemente, dazwischen in kunstvollen Mustern geschichtete gleichmäßige Steinplatten, die Abstände zwischen den Mauern ausgefüllt mit Erde und Muschelschalen und im Zentrum jeder Hütte ein Herd mit einem glosenden Torffeuer, das die Steine warm hält und den Raum konstant in ein schummriges Licht taucht. Sie scheinen für die Ewigkeit gebaut, sagst du, und trotzdem wurde immer wieder neu modelliert und angepasst, hier eine Wand abgetragen um die Steine dort wieder aufzuschichten, so dass uns mehrere übereinander errichtete Lagen an Gebäuden geblieben sind, die vor Jahrtausenden vergangene Generationen Schicht für Schicht wieder lebendig machen. Hier hast du allein Karten gespielt und dir dabei die Stimmen der Verblichenen vorgestellt, die immer mehr von ihrer Farbe verloren haben, dahingeschwunden, zerbröselt und schließlich im Boden verronnen sind. Mit leicht geöffnetem Mund hörst du zu, als ich dir von einer Zeitmaschine erzähle, die in einem kunsthistorischen Labor verwendet wird: in einer Box, etwa so groß wie ein Kühlschrank, kann das Verstreichen der Jahrhunderte vorangetrieben werden, indem das Gerät durch Bestrahlung und andere künstlich herbeigeführte atmosphärische Phänomene Alterungsprozesse imitiert. Zurück zum Wolkenfliegen, meinst du mit trockenen Lippen, und erinnerst mich an die Zeit, als wir damals in den Pausen beim Wandern in den Himmel schauten und uns dabei vorstellten, wir hüpften von einer langsam ausfransenden Wolke auf die nächste, bis auch diese sich auflöste. Wie sehr ich als Kind darauf wartete, endlich alles zu dürfen, ganz wie Erwachsene – und dann, wenn es soweit wäre, kann oder will man gar nicht mehr, weil sich die Wünsche so verschoben haben, dass sie weiter unerreichbar bleiben: Wie ein Horizont, der sich immer weiter entfernt, je mehr man sich darauf zu bewegt. Die Aufregung, die uns das Leuchten in die Augen trieb, verblasst immer mehr, und trotzdem lässt sich diese vage Leere in uns nie füllen. Um nicht mit einer Erklärung deine Erinnerung zu trüben halte ich zurück, dass diese Zeitmaschine nur in eine Richtung funktioniert, und nicke dir lächelnd und gleichzeitig zum Weitergehen auffordernd zu.