Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt bereits überschritten, als M plötzlich ins Leere trat. Das Lastenfahrrad rollte langsam aus und kam schließlich zum Stehen. Ein Blick unter die Ladefläche zeigte, dass das Öl und die kleine Bürste aus der Werkzeugtasche nötig waren: die Kette war vom Zahnrad gerutscht und hing ohne Spannung und teilweise um die vordere Achse gewickelt bis zum staubigen Boden, über den sie wohl auch die letzten Meter geschliffen war. Die Mechanik war unkompliziert und die einzelnen Glieder waren schnell geputzt, aber als die Kette wieder hinaufgespannt und mit der Zange das Schlussglied zusammengedrückt war, war wohl auch ein Finger dazwischen gewesen, der dabei eingezwickt wurde. Hoffentlich entzündet es sich nicht –selbst kleine Verletzungen konnten zu großen Problemen werden, wenn man nicht aufpasste und rechtzeitig die passenden Medikamente auftreiben konnte, weshalb die kleine Wunde schnell desinfiziert und versorgt werden musste. Mit diesem Gedanken im Kopf und dem Finger im Mund, um das Blut wegzusaugen, schweifte der Blick über die nach unten abfallende Landschaft: dieses Gefühl von absoluter Geborgenheit, nach dem ich mich zutiefst sehne, dieses kurze Aufblinken dieser Empfindung, das endgültige Ankommen… Kann ich mich damit abfinden, dass es nie ein Dauerzustand wird, nie völlig erreicht und zu Ende gedacht werden kann?
Es war Zeit für eine kleine Pause, beschloss M, aß einen runzligen Apfel, die ganze Frucht, schnippte den Stängel weg und bemerkte in diesem Moment am Wegrand einen merkwürdigen Strauch: von tausenden Raupen befallen, die sich darin eingenistet und versponnen hatten und die jetzt großteils schon aus ihren Kokons geschlüpft waren. Langsam, aber stetig würden sie nun die Blätter auffressen und so ihren Wirt zerstören, bevor sie sich in einen riesigen Schwarm bunter Schmetterlinge verwandelten. Ob die gelben Längsstreifen, die den ansonsten grün-braunen Körper der kleinen Tierchen mit regelmäßig verteilten weißen Punkten teilten, auf Gift hinwiesen oder nur die geschickte Imitation anderer giftiger Raupen war? Keine Ahnung! M wusste nicht viel über die Entwicklung von Lebewesen, hatte aber einmal gelesen, dass sich eine Mutation durchsetzt, die einmal zufällig auftritt und eine Eigenschaft mit sich bringt, die dieses Individuum erfolgreicher als die Artgenossen macht. Wenn dieses Merkmal einen Vorteil bringt, kann sich das abnormale, mutierte Wesen besser verbreiten – so war das mit Veränderungen und Konstanten, die Dinge blieben nur beim Alten, wenn sie erfolgreich waren, und unterhalb des Strauches entdeckte M eine Wespe, die gerade eine Raupe mit ihren Zangen fixierte und zerlegte, bis diese sich nicht mehr rührte und den Todeskampf verloren hatte.
Allmählich öffnete sich das Hochtal und gab die Sicht frei auf die Ebene und den alten Güterbahnhof, dessen Schienen der Weg nun einige Zeit folgen würde. M blickte hinunter auf weitläufige Flächen mit Lade-, Verschub- und Abstellgleisen, dazwischen Lagerhallen, zusammengefallen und verwahrlost, so dass oft nur einzelne Wände und Metallstreben wie Finger aus der Erde ragten. Das gesamte Gelände war von Pflanzen überwuchert, die in diesen Breitengraden noch besser gediehen als im Süden, wo sich riesige Wüsten erstreckten und immer weiter ausbreiteten, und auch besser als weiter nördlich, wo die Winter immer trockener und kälter geworden waren und ein ganzjähriges Überleben beinahe unmöglich machten. Auch die Verstrahlung, die viele Gegenden unbewohnbar machte, war hier gering. Aber die Luft säuselte und flirrte, als ob unzählige Insekten herumschwirrten, die rastlos ein Opfer suchten.
Der Weg führte nun an der Flanke des linken, das Tal begrenzenden Bergrückens entlang nach unten, gesäumt von mehreren Wehranlagen aus Stahlbeton, die mit ihren Bunkern und Flaktürmen, jetzt teils überwachsen und eingesunken, früher den Bahnverkehr sichergestellt hatten. In einiger Entfernung, gerade noch ohne die ergänzende Hilfe der Phantasie zu erahnen, war eine der vielen Schneisen zu erkennen, die die Wirbelstürme in die Landschaft gerissen hatten. Obwohl die Bergrücken auf Grund der Witterung kaum bewachsen waren, war der Weg weiter oben kaum befahrbar gewesen und das Gefährt größtenteils zu schieben oder sogar über Steine und Wurzeln zu heben, denn während die Wege in der Ebene häufiger benutzt und somit auch gewartet wurden, kam so gut wie nie jemand hinauf ins Hochtal.
Der Himmel über den verrosteten Gleisen war grau und wolkenverhangen. Von hier würde es leichter weitergehen, die verrotteten Eisenbahnschweller ermöglichten es, eine Zeit lang am Bahndamm bis zur Abzweigung zur nächsten Gemeinschaft zu fahren. Es war eine kleine Gruppe, verteilt auf mehrere Gebäude, bei der immer ein Platz zum Übernachten und ein bisschen Obst und Gemüse zum Mitnehmen verfügbar waren. Freundliche Leute, die sich über mitgebrachte Sachen aus der Stadt freuten, die dort in den Trümmern gefunden worden waren: Schallplatten, Bücher oder Ersatzteile. Vor der Weiterfahrt wollte noch schnell die Abendstimmung notiert werden:
Sonnenuntergang, orange angestrahlt Wolkenfetzen in der Ebene, am sauber geregneten Himmel ziehen weiße Schäferwolken dahin
Auch wenn ich mir etwas aus den Fingern sauge, bleiben es meine Finger, und M überlegte, an welcher Stelle dieser Sonnenuntergang hineinpassen könnte.
Beim Erreichen des Teiches stand die Sonne schon tief und obwohl es nicht sonderlich heiß war, bot sich diesmal eine Abkühlung im grünlich-trüben Wasser an. Vor zwei Tagen hingegen, unterwegs in die entgegengesetzte Richtung, war der Weg noch länger und deshalb die Eile größer gewesen, um rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit bei F anzukommen. Nun sprach aber nichts gegen einen Sprung von einem großen Stein ins erfrischende Nass: die Empfindung, unter Wasser zu sein, die veränderte Wahrnehmung, das Hören der eigenen Bewegung; all das war immer wieder ein wundervolles Gefühl, das dazu verleitete, bis knapp vor das andere Ufer zu tauchen. Nachdem die Wasseroberfläche prustend wieder durchbrochen und der Rückweg mit ein paar kräftigen Tempi erledigt war, legte M sich zum Trocknen auf den Stein, der noch die Wärme des Tages abstrahlte. Dies könnte einer der Kraterseen sein, von denen F mir erzählt hat, murmelte M vor sich hin und spürte auf der Haut, wie einzelne Wassertropfen sich langsam einen kitzelnden Weg nach unten suchten. Früher hatten angeblich kleine Raumschiffe, von globalen Konzernen ferngesteuerte Arbeitsdrohnen, Meteoriten in die Erdumlaufbahn gezogen, wo sie dann zur Energie- und Rohstoffgewinnung verarbeitet worden waren. Einige dieser Gesteinsbrocken waren aber außer Kontrolle geraten und auf die Erde gestürzt, so dass kollateralschädliche Kraterlandschaften entstanden, wie F sie genannt hatte, angeblich war es nach einiger Zeit sogar üblich geworden, die Reste, die nach den aufwendigen Extraktionsvorgängen übriggeblieben waren, in die Erdatmosphäre zu dirigieren, in der Hoffnung, der größte Teil würde verglühen – so konnte die Entsorgung eingespart und mehr Gewinn erzielt werden. M lag am Rücken und ließ den Kopf über die Kante des Steins hängen, wodurch sich eine neue Perspektive auf die verkehrte Welt auftat: Die Wasseroberfläche wurde zu einer Wand, an der entlang man nach oben blickte, als wäre der Horizont die Zimmerdecke. Eine ungewohnte Regung beim Aufstehen und Anziehen ließ M noch einmal das Notizbuch herausnehmen einen der bereits fertigen Abschnitte lesen:
ALEGRO
Die verschneiten Bergkämme und felsigen Grate bilden einen Kranz um die Ebene, durchbrochen von schroffen Hochtälern schützt dieser die Stadt und ihre Einwohner, die Dörfer, Wälder und Wiesen. Bewegt man sich von den Gipfeln nach unten, so wandert man lange über moosige Steine, nur der Almrausch mit seinen kleinen, fleischig grünen Blättern bietet dem Blick Abwechslung in dieser grauen Einöde. Die Wolken huschen hier schneller als im Tal über den Himmel, und selbst im Sommer bleiben schattseitig noch Schneefelder, auf denen sich hier und da Spuren von Gämsen und anderen hochgebirglichen Wildtieren finden. Hier ist man allein auf Dauer verloren.
Weiter unten gelangt man zu den Wiesen, auf denen vom Frühling bis zum Herbst die Kühe weiden, die alles bis auf den gelben Hahnenkamm und die weislich-rosarote Schafgarbe abgrasen, die in Ruhe wiederkäuen und mit ihren Schwänzen Fliegen verscheuchen. Legt man hier eine Rast ein, so merkt man, dass die Stille eine freundlichere ist, manchmal von Vogelgezwitscher und dem Rauschen der Wälder untermalt. Die Menschen, die in den vereinzelt wie in die Welt geworfenen kümmerlichen Hütten den Sommer verbringen und das Vieh hüten, haben hier kleine Wege geschaffen, Trampelpfade für den Viehtrieb, die sich über Jahrzehnte halten, sich immer sanft der Landschaft anpassen, sich zwischen Steinhaufen durchschlängeln und manchmal von Unwettern weggeschwemmt werden. Über diese Wege, die sich im Laufe der Zeit unmerklich ändern, kommt man hinunter in die Lerchen- und Zirbenwälder, später in die Mischwälder, in denen die Holzarbeiter ihrem schweren Broterwerb nachgehen und die Luft mit den regelmäßigen Schlägen der Äxte und dem harzigen Geruch des frisch geschlagenen Holzes erfüllen. Hier verlaufen sich die Berge langsam, die steilen Abhänge verflachen sich zu fruchtbarem Ackerboden und einträglichen Weiden, kleine Dörfer und Weiler sind anscheinend ziellos in die Landschaft gepflanzt und fügen sich wie Arbeiter unter ihren Lehnsherren in dieses Bild ein.
Die Stadt selbst liegt an einer Furt und ist von einer Mauer umgeben, nicht allzu hoch, aber massiv. Betritt man sie durch eines der beiden Tore, so kommt man in eine andere Welt. Am Marktplatz werden Stoffe und Gewürze aus dem Süden angeboten, die Wagen mit Waren aus dem Norden, die sich über die Pässe gekämpft haben, rasten vor dem Abladen am Stadtbrunnen, Rufe und Hufgeklapper erfüllen die Luft, und gemächlicheren Gemütern kann es durchaus bald zu viel werden. In den umliegenden Gassen ist es ruhiger, in den dunklen Ecken finden sich nicht nur Schmutz und Abfall, sondern gelegentlich auch tote Ratten. Hier sind Pfützen von Natur aus braun und der Gestank raubte schon Etlichen den Atem.
In einer dieser Gassen, nahe der Stadtmauer, stand W und wartete geduldig. Aus der unscheinbaren, halb offenen Tür, die nur Einblick auf einen düsteren Innenhof gewährte, drang der scharfe Geruch der Beize und reizte Nase und Augen. Ein Stückchen weiter kippte jemand Unrat auf die Straße, und Vögel kamen, um sich um die Abfälle zu balgen, bis sie von streunenden Katzen vertrieben wurden, die ebenfalls ihren Hunger stillen wollten.
„Sieben Häute, wie vereinbart. Im nächsten Monat könnte es knapp werden. Und richte deinem Meister aus, in Zukunft früher zu bestellen!“
Mit diesen Worten bekam W einen schweren Packen frisch gegerbten Leders in die Hände gedrückt, und schon wurde die Holztür wieder zugeschlagen. Der kräftige, herbe Geruch der frischen Tierhäute machte es einfach, sich wieder auf den Weg zu machen.
Diese erste Passage der Geschichte war gelungen, bereits mit der Schreibmaschine getippt und mit den übrigen fertigen Teilen zusammengeheftet. Seufzend verstaute M die Sachen auf der Ladefläche – es war noch ein Stückchen Weg zu bewältigen und das Dämmerlicht würde bald verblassen.
Die Umrisse der Gebäude tauchten kurz nach Einbruch der Dunkelheit hinter einem Hügel in der Dämmerung auf. Die Fenster im Erdgeschoss des Hauptgebäudes waren spärlich erleuchtet, und die zwei Hunde, die die letzten paar 100 Meter bellend nebenhergelaufen waren, schnüffelten mit aufgestellten Ohren und wedelnden Schwänzen am Fahrrad. Die Ankunft war nicht unbemerkt geblieben, und B kam zur Begrüßung freudig aus der Tür:
„Schön, dass du es noch geschafft hast! Ich habe mir schon Sorgen gemacht, es wäre dir etwas passiert, aber wahrscheinlich wollte dich good old F nicht gehen lassen, hm? Wie läuft es oben, und noch viel wichtiger: wie geht es dir? Was hat dich aufgehalten? Bist du hungrig? Komm, ich helfe dir, deine Sachen hineinzutragen!"
Während sie die inzwischen beinahe leere Tasche in das kleine Mansardenzimmer hinaufbrachten, erzählte M die schmale Holztreppe hinauf schnaufend und in unzusammenhängenden Sätzen von der Reise: vom teilweise schwierigen Weg, der mit dem geländeuntauglichen Fahrrad manchmal kaum zu bewältigen gewesen war, von der Überraschung, als klar geworden war, dass F wirklich in einer Höhle wohnte und schon seit Wochen mit keinem Menschen mehr geredet hatte, von der Freude über die Kisten voller bunter Legosteine und von den stundenlangen Monologen über die alte Zeit. M war müde aber froh, wieder in Gesellschaft zu sein und kam gerne noch mit in den Gemeinschaftsraum, in dem noch ein paar zusammen saßen. Im offenen Kamin brannte ein leise knackendes und gemütlich flackerndes Feuer, und B bot an, Platz zu nehmen und zu essen: Bratkartoffeln und gedünstetes Gemüse lagen in einer großen Tonschüssel in der Mitte des groben Holztisches, und die Leute rückten freundlich nickend zur Seite. Wissbegierige Blicke drängten, so schien es, auf Neuigkeiten, und M begann, zwischen den einzelnen Bissen, dem Kauen und einem gelegentlichen Schluck blassroten Weines, die Sätze hervor drückend, mit dem Ungewöhnlichsten: F baute eine Stadt. In einem kleinen, von einem Spalt in der Decke beleuchteten Nebenraum, erreichbar durch einen schmalen Gang von der Haupthöhle aus, wuchs auf einer Art Steintisch eine eigene, winzige Welt. Rund um einen Hügel standen unzählige kleine Häuschen und Hütten in grau und braun, mit verschiedenfarbigen Dächern, zwischen denen sich verwinkelte Gassen dahin schlängelten. Mülltonnen und Autowracks standen herum, manche Häuser wirkten verfallen und unbewohnt, und in einem Hinterhof konnte man Tische und Bänke erkennen, an denen sitzende Legofiguren aßen, was daneben über dem offenen Feuer zubereitet worden war. Auf der Anhöhe in der Mitte aber stand ein riesiger grauer Gebäudekomplex, eine Fabrik oder ein Gefängnis. Dorthin führten mehrere breite Straßen, auf denen Lastwagen fuhren, alle gleicher Bauart. Vereinzelt patrouillierten Gruppen uniformierter Figuren mit Helmen und Schlagstöcken, und auf einem kleinen Platz zwischen den Häusern wurde gerade eine Demonstration von dieser Sicherheitsgarde niedergeschlagen. Nur mit einem zerschlissenen Umhängetuch bekleidet hatte F auch einen Überwachungshubschrauber vorgeführt, der, an einem Stecken und einer Schnur hängend, über dem Städtchen kreiste, hatte dabei spuckend die Motoren- und Rotorgeräusche imitiert.
An diesem Punkt unterbrach B die Erzählung mit einem ungläubigen Auflachen und gerunzelter Stirn: „Deshalb also die seltsame Bestellung beim letzten Besuch! Wir hatten uns schon gewundert, dass es nicht wie üblich Kartoffeln, Karotten, Kohl, Äpfel und ein paar Kleinigkeiten waren, sondern dass wir den Auftrag bekamen, so viel wie möglich von dem bunten Spielzeug zu besorgen. Aber scheinbar hat bereits jemand anders eine Ladung gebracht, denn vor dir hab ich niemandem die Bestellung weiter gegeben…“
„Außerdem hat F mir noch viel von früher erzählt, davon, wie abgestumpft die Menschen in den wohlhabenden Regionen durch tägliche, medial vermittelte Traumata geworden waren. Das tatsächliche Geschehen habe sie überfordert, die inszenierte Todesangst habe sie so gelähmt, dass sie sich kaum mehr rühren hätten können, taubgebrüllt seien sie gewesen von Themen, die niemanden mehr aufregten: solange es nicht bei uns passiert! Sie seien nur mehr zwischen den Bildschirmen am Arbeitsplatz und im Wohnzimmer hin und her gependelt, und Leute seien daran zerbrochen, weil sie zu viele Masken gehabt hätten und ihre wahre Identität sich nie im rauen Wind der Realität entwickeln hatte können, so oder so ähnlich war es formuliert gewesen. Irgendwann hätte es sogar mehr Mobiltelefone als Menschen gegeben, selten sah man auf der Straße oder in öffentlichen Verkehrsmitteln jemanden nicht telefonieren – und diese Ohrenstöpsel… F hatte sich auch daran erinnert, dass es Firmen gegeben hatte, die gut dafür bezahlt worden waren, die Liftintervalle in den riesigen Bürokomplexen zu optimieren und somit Zeit und Geld zu sparen, und dass der Firmenjet einmal auf einer Geschäftsreise mehrere Stunden über der Landebahn gekreist sei, weil ein Gewitter das Aufsetzen unmöglich gemacht hatte. Zu diesem Zeitpunkt habe F erstmals unsere Handlungen hinterfragt, unter sich die sich auftürmenden Gewitterwolken, rundherum weitere Flugzeuge, die ebenfalls Runden flogen und immer wieder kurz von Blitzen beleuchtet worden seien: von Turbulenzen durchgeschüttelt mussten sie alle warten, bis sich ein Landefenster öffnete…“
„Das passt zu F“, meinte B, „ich kenne nicht viele, die die alte Zeit selbst miterlebt haben. Jung und emporstrebend im Big Business zu arbeiten, während große Teile der Welt bereits von Bürgerkriegen, Umweltkatastrophen und der kontinuierlichen Ausbeutung der Erde zerstört gewesen waren – unvorstellbar! Freudentränen an der Tankstelle, wenn es wieder Benzin gab! Und die Zukunftsvisionen des frühen 20. Jahrhunderts ein paar Jahrzehnten später teilweise schon Wirklichkeit oder längst überholt! So hatte es etwa schon lange Computersysteme gegeben, die sich selbst optimierten, die sich weiterentwickelten und lernten und die mehr oder weniger das gesamte Wissen der Welt gespeichert hatten. Kommunikationswege, die in Echtzeit weltweiten Austausch ermöglichten, Geräte, die in jede geläufige Sprache übersetzen konnten, … Selbstverständlich nur für die, die es sich leisten konnten, die von jeder Krise profitierten, während die anderen verarmten und begannen, die noch ärmeren zu hassen. Aber, und das ist mein Lieblingsbeispiel: die Vögel hatten begonnen, in der Nacht zu zwitschern, weil es in den Städten tagsüber zu laut gewesen war und sie sich nicht mehr erreichen hatten können, selbst wenn sie sich anpassten und höher und lauter sangen. Solange die Sonne schien, hatten sie sich vor der Hitze und den Abgasen in Regenrinnen oder Ähnlichem versteckt, und ihre Schnäbel und Beine waren größer geworden, um die gestiegenen Temperaturen besser vertragen zu können.“
Der Raum war langsam leer geworden, das Feuer gloste nur noch vor sich hin, B rauchte eine Pfeife und sie unterhielten sich noch eine Zeit lang, untermalt vom Tscheppern des Tischfußballtisches, der in einer Ecke stand. Die Gemeinschaft hatte ihn schon vor Jahren restauriert, liebevoll gepflegt und gut gewartet glänzte er immer noch wie neu und war sogar an die Batterien der Solaranlage angeschlossen, so dass die Beleuchtung funktionierte und den Raum in ein unnatürliches Licht tauchte. Daneben an der Wand hing eine Dartscheibe und auf der anderen Seite stand ein kleines Schlagzeug mit genug Platz rundherum, so dass eine Band spielen konnte. An diesem Abend kam die Musik aber vom Plattenspieler, der auf einem kleinen Tischchen in der Ecke stand und ebenfalls von der Batterie gespeist wurde. Nachdem M den Teller leergegessen und abgeleckt hatte, so dass nichts verschwendet wurde, war es an der Zeit einer schweren Müdigkeit nachzugeben und gute Nacht zu wünschen.
Am nächsten Morgen blinzelte die Sonne schon früh ins Zimmer und nach der anstrengenden Reise und der unbequemen Nacht am harten Höhlenboden war der erholsame Schlaf in einem Bett eine Wohltat gewesen. Von draußen waren bereits die ersten Geräusche zu hören, und aus dem kleinen Fenster gelehnt konnte man das geschäftige Treiben im Hof beobachten, während die frische Luft vollständig munter machte. Den Kopf auf die am Fensterbrett abgestützten Arme gelegt und an der mit Lehm verputzten Wand hinunterblickend entdeckte M mehrere Ameisenstraßen, die an der Wand entlang vertikal nach oben beziehungsweise nach unten führten. Die kleinen Tierchen liefen unermüdlich hintereinander her, einen unbekannten Plan befolgend, und nach längerer Beobachtung kippte plötzlich der Blickwinkel, als sei die Wand der Boden und die Erde eine Wand, die im rechten Winkel dazu stand.
Zum Frühstück im Gemeinschaftsraum gab es Brot mit Butter, Marmelade und Käse, Haferbrei mit getrockneten Beeren und Honig und frischen, heißen Kräutertee sowie kuhwarme Milch. Bald kam B herein und meinte: „Komm mit ins Wirtschaftsgebäude, ich zeig dir etwas!“
Am Hof wurden gerade Bänke und Tische aufgestellt, denn am Nachmittag sollte ein Fest stattfinden, zu dem alle umliegenden Siedlungen eingeladen waren. Es duftete nach frisch gebackenem Brot und Kuchen, 2 Jugendliche saßen hinter einer großen Schüssel Kartoffeln und schäkerten halblaut beim Schälen, daneben rannten Kinder lärmend durch die Wiese. Als sie den düsteren Arbeitsraum betraten, mussten sich die Augen erst an die Dunkelheit gewöhnen – vorsichtig tappend und wie blind folgte M den Geräuschen bis zur Werkbank, die am Fenster stand und deshalb besser beleuchtet war: ein Messgerät, ein Lötkolben und andere Werkzeuge und Materialien wurden nach und nach schemenhaft erkennbar.
„Ich bastle gerade an einer neuen Batterie, da unsere Fotovoltaikanlage mehr Energie produziert, als die jetzige Konstruktion speichern kann.“ Mit dem Lichtkegel einer Taschenlampe den Verlauf der Kabel ausleuchtend, die von den Solarpanelen am Dach nach unten in den Wechselrichter führten, der den Strom in die passende Spannung umwandelte, erläuterte B die Funktionsweise. Der gewonnene Strom wurde in sechs parallel geschaltete Autobatterien weitergeleitet, von denen aus mehrere Lampen im Hauptgebäude und im Stall mit Energie versorgt werden konnten. Außerdem gab es in der Werkstatt, im Gemeinschaftsraum und in der Küche jeweils eine Steckdose, an denen Akkus aufgeladen und Geräte betrieben werden konnten und von denen auch der Filmprojektor und der Plattenspieler gespeist wurden.
„Es ist schon ein paar Mal passiert, dass an sonnigen Tagen zu viel Strom produziert wird, während im Winter oder nach längeren Regenperioden die Batterien zu stark beansprucht werden - das macht sie auch bei gewissenhafter Wartung schnell kaputt. Deshalb brauche ich deine Hilfe: es wäre super, wenn du mir bei deinem nächsten Besuch weitere Autobatterien und vor allem einen Laderegler mitbringen könntest. Auch Kabel kann ich immer gut brauchen!“
Nachdem B erklärt hatte, wie ein Laderegler aussah und von welchen Firmen sie produziert worden waren, versprach M, gerne zu helfen.
Die Vorbereitungen für das Fest waren beinahe abgeschlossen und sie entschieden sich, noch einen kleinen Spaziergang zu machen. Schweigend gingen sie nebeneinander durch die Obst- und Gemüsegärten, am Bach entlang über die Weiden und vorbei an der Mühle, in der nicht nur das Getreide gemahlen, sondern ebenfalls Strom produziert wurde. Schließlich erreichten sie eine Höhle am Waldrand, in der sich zu Krisenzeiten angeblich Menschen versteckt hatten. Sie setzten sich davor auf den Waldboden, mit Blick auf die Siedlung, in der man die Menschen wie Insekten herumwuseln sah, und B holte aus der Hosentasche eine Handvoll kleiner getrockneter Pilze und aß einige davon, nicht ohne sie auch anzubieten. Nach kurzer Überlegung lehnte M ab und versuchte sich anhand der Beschreibung die Höhle vorzustellen: die verschiedenen Räume und Ebenen, die Rauchabzüge, die extra weit durch den Hang gegraben worden waren, um die Lage der Höhle nicht zu verraten und die Steinräder, die man in die Gänge rollen konnte, um sie zu verschließen und die Wohnräume damit zu sichern. Schlufstrecken, Versinterung und ein beeindruckender Deckenkolk – alles unbekannte Wörter!
„Weißt du, nicht nur die Welt, sondern auch die Sprache und die Schrift haben sich verändert. Die einzelnen Gruppen von Überlebenden hatten während der Bürgerkriege und der Verstrahlung kaum miteinander kommuniziert, und in der ersten Generation des Neuanfangs hatte niemand die Zeit gefunden, die alten, früher selbstverständlichen Dinge bewusst zu erhalten; es war ums nackte Überleben gegangen. So waren manchmal persönliche Sprechweisen dominanter Personen zur Sprache einer Gruppe geworden, und auch die Schrift, sofern sie, was meistens der Fall gewesen war, nicht maschinell produziert wurde, hatte sich verändert, da die Eltern den Kindern ihre eigene Schreibweise weitergegeben hatten. Oft wurden die gemeinsamen Gesprächsthemen sowie das Umfeld und gelegentliche Wortneuschöpfungen so vorherrschend, dass nur Vertraute verstehen konnten, um was es in einem Gespräch ging. Außerdem verschwanden ganze Bereiche der menschlichen Gesellschaft und mit ihnen die dazugehörigen Bezeichnungen. Früher hätten mich vielleicht wenige verstanden, wenn ich von der Wirtschaft gesprochen und damit den Hof gemeint hätte. Aber, um deine Frage zu beantworten: ich kenne die Ausdrücke von Ehemaligen, die früher bei uns gelebt und mir diese Höhle gezeigt haben.“
Sie blickten hinunter auf die Siedlung, beobachteten den vom Wind zerstreuten Rauch aus den Kaminen, bis B plötzlich fortfuhr:
„Wir brauchen Feste, brauchen die Konventionen, gesellschaftliche Übereinkünfte, die alltäglichen Strukturen. Sie erleichtern nicht nur den Umgang miteinander, sondern ermöglichen uns auch, die Beschränkungen der individuellen Perspektive zu überwinden, sich als Teil von etwas Größerem zu verstehen, denke ich. Es darf aber auch nicht vergessen werden, dass diese Richtlinien aufgrund der einseitigen Sichtweise der Gegenwart immer wieder neu ausgehandelt werden müssen, die sich wandelnden Gegebenheiten miteinbezogen werden müssen. Wir feiern zum Beispiel die Sonnenwenden als ein vom Universum aufgezwungenes Rekapitulieren und Vorausplanen, das an jedem anderen Tag im Jahr genauso gut stattfinden könnte oder sollte. Aber trotzdem finde ich es sinnvoll, mit dem Rhythmus zu gehen, mitzufließen, sich nicht dagegenzustemmen. Aus einem ähnlichen Grund feiern wir auch unser monatliches Nachbarschaftstreffen, das Vollmondfest, so wie heute: für den Rhythmus und den Austausch. Wir essen und trinken, reden und lachen, wer Hilfe braucht, kann sich hier schlau machen, und Musik, Theater und Geschichten finden ein großes Publikum. Diese Menschen sind überhaupt erst wieder wichtig geworden, Menschen, die Inhalte ausschmücken und uns einen eindrucksvollen Rundgang durch die Gedankenwelt ermöglichen, die jeden Moment, jedes Wort auskosten, die das Leuchten in den Augen sehen wollen, die von genau diesem Leuchten leben.“
„Ja, dieses Gefühl, das sie erschaffen, kenne ich“, entgegnete M, „ich erinnere mich noch daran, wie es war, wenn ich mir als Kind aus Stühlen und Decken ein Versteck gebaut hatte, oder an diese Heimeligkeit, die ich an den Tagen erlebte, wenn wir Besuch hatten und die Erwachsenen stundenlang zusammensaßen, ich dazwischen, selig lauschend im Kerzenschein, mit heißen Ohren.“
„Es sieht ganz so aus, als ob wir näher zusammengerückt wären und sich die Wertigkeiten verschoben hätten. Vielleicht hat sich dadurch auch unser Empfinden für die Zeit verändert, weil sich unsere Prioritäten umverteilt haben und sich unsere Alltagszeit verschoben hat. Lass es mich so versuchen: in einer automatisierten Welt wurde Zeit anders bewertet und gemessen. In dieser in kleinen Zyklen organisierten Wirklichkeit zählte jede Minute, in der etwa ein Bus oder ein Zug abfahren hätte können, während es nun, wenn man zu Fuß unterwegs ist, egal ist, ob man 1 Minute früher oder später aufbricht, denn man kann ja die verlorene, ach verlorene Zeit, was bedeutet das schon… nennen wir sie die als verloren empfundene Zeit, wieder aufholen, indem man einfach etwas schneller geht.“
„Es ist seltsam, darüber haben wir im Hochtal auch gesprochen. Über die Umstellung auf die größeren Kreise, die von der Natur vorgegeben sind. Darüber, wie verschieden unsere Kindheiten waren, obwohl wir uns beide nachts vor unheimlichen Tieren gefürchtet haben, die sich dann bei näherer Betrachtung, nachdem man minutenlang mit laut pochendem Herzen still gelegen war, als Deckenwülste oder Bücher enttarnten. F hatte in der Jugend befürchtet, überwacht zu sein und einer alles kontrollierenden Instanz Genüge tun zu müssen, als bewege man sich vor einer Gruppe, die wusste und beurteilte, was eine Einzelperson tat und sagte. Und die Straßenbahnen: als ob eine Filmrolle vorbeifuhr oder abgerollt werde, wenn ein Waggon vorbeiratterte; die Fenster wie Rahmen, in jedem Fenster ein Kopf, oder mehrere oder keiner. Und dann das Ausschwärmen! Wenn sich die Türen öffneten, standen sich die Leute oft stur im Weg, wie ein Eisbrecher musste man sich manchmal einen Kurs durch die Menge suchen, die Anderen und ihr Verhalten abschätzen, ihre Bewegungen einplanen und sich dem Rhythmus der Ampeln unterordnen.“
„Ha, ich kann mir gut vorstellen, dass sich damals viele Überschaubarkeit und Geborgenheit wünschten. Jetzt ist diese Sehnsucht nach kleinen Strukturen wieder erfüllbar, es musste sogar wieder der Überschaubarkeit entgegengearbeitet werden, neue Netze mussten geknüpft werden! Nach den Kriegen und Aufständen, nach den Kamikazeangriffen auf die Atomkraftwerke, nach all der Zerstörung mussten die Menschen lange Zeit stillhalten. Unmengen von Insekten hatten sich auf der Erde breitgemacht und jahrelang die Oberfläche beherrscht, aber die Stürme und Vulkane, die Erdbeben und Überschwemmungen waren vorbeigegangen, und das Wandern und Suchen hatte begonnen.“
M sehnte sich nach einer sicheren, idyllischen Zeit, die ihnen nur in Bruchstücken vertraut war, von Erzählungen, Liedern und Bildern; einer Zeit lange vor dem Crash, der kein definitiv auf ein Ereignis zurückführbarer Zusammenbruch, sondern, wie berichtet wurde, ein langsames, an allen Ecken und Enden sich bemerkbar machendes Zerfallen und Zerbröseln gewesen sein soll. Wie groß war der Wunsch nach einer anderen Lebensart gewesen, als einmal ein Bildband über das Mittelalter aufgetaucht war: Burgen und Kirchen, der Buchdruck! Und ein Flötenkonzert auf einer alten Schallplatte – schön muss das gewesen sein! Seufzend dachte M an das Notizheft: krakelige Halbsätze auf mit einer Schnur zusammen gebundenen Zetteln, wie Erinnerungshilfen aus dem Jenseits; oft kurz vor dem Einschlafen aufgezeichnet und am nächsten Tag manchmal unverständlich, als ob jemand anders sie geschrieben hätte. Stundenlang brütend vor der Schreibmaschine, einem alten Metallkasten voller Schrammen und Beulen, aus den Trümmern geborgen, in nervenaufreibender Arbeit repariert und mit selbsthergestelltem Tintenband notdürftig ausgestattet, war dann der Versuch, die einzelnen Bestandteile zusammenzufügen und ein Ganzes zu schaffen, oft zum Scheitern verurteilt.
„Für mich ist die Wirklichkeit, in der wir leben, trotzdem nicht befriedigend“, sagte M mehr zu sich selbst, „Aber ich werde wohl lernen, damit umzugehen, und mich nicht andauernd in meine Geschichten und Idealvorstellungen flüchten. Ich schreibe nämlich, musst du wissen, und wenn du willst, würde ich dir gern einen Teil meiner Geschichte zum Lesen geben.“ Zögerlich wurden ein paar Blätter weitergereicht.
ALLEGRA
Als W die Stube betrat, saßen Meister und Gast am Tisch und tranken Wein. Zur Feier des Tages gab es Schweinebraten, der den halben Nachmittag im Ofen geschmort hatte, der immer wieder gewendet und mit eigenem Saft übergossen worden war. Während W sich die übrig gebliebenen Stücke gemeinsam mit gedünsteten Pastinaken auf einen Teller lud und eine dicke Scheibe Brot abschnitt, erzählte der Händler:
„Schon von außen wirkt die Kathedrale gewaltig. Steht man in einiger Entfernung am Vorplatz, im Schatten der beiden mächtigen Türme, so erscheinen die unzähligen Verzierungen noch fein, gar filigran, erst wenn man sich ehrfurchtsvoll nähert, wird man der schier unglaublichen Ausmaße gewahr. Die vormals so zierlichen Säulchen zeigen sich als baumdicke, tragende Felskolosse, die geschwungenen Bögen, obwohl fest in das Mauergefüge eingelassen, erwecken die Angst, einen zu erschlagen, und die spitzen Verzierungen, derer man sich von Weitem erfreute, offenbaren sich als bedrohlich.
Als ich die Kathedrale betrat, musste ich mich kurz sammeln. Der Raum scheint so riesig, dass die unzähligen schwarzen und weisen Fließen am Boden in der Ferne zu einem schwindelerregenden Muster verschwinden. Du weißt, mein Freund, wie ich zur Kirche stehe. Weniges läge mir ferner, als die von den Mönchen und Äbten, Priestern und Bischöfen, den Nonnen und Kaplänen betriebenen Geschäfte gut zu heißen. Aber selbst ich schwieg und war überwältigt, selbst in mir kam ein Gefühl von Demut auf in Anbetracht dieser Erhabenheit. Die mächtigen Säulen scheinen das Gewicht der Welt zu tragen, die Bänke erwecken den Eindruck, einem ganzen Land Platz zu bieten, und ich kam mir klein vor, als das Licht der Vormittagssonne durch das schimmernde Glas der malerischen Rosette an der rückwertigen Seite fiel. Eingerahmt von lebensgroßen Figuren erstrahlt das Fenster in den mannigfaltigsten Farben, und wie ein stilles Auge scheint es den Ort zu überwachen.
Ich hatte, es wird dich nicht überraschen, die Morgenandacht abgewartet, und als die Gläubigen aus der Kathedrale hinausgegangen waren hatte ich den Raum für mich. Ich schlenderte ziellos umher, die Luft, kalt und abgestanden, gab noch einen Hauch des sie immer wieder bereichernden Weihrauchs ab, und schließlich gelangte ich zur Seitenkapelle.
Und dort sah ich sie: unscheinbar auf den ersten Blick, in eine Nische an der linken Seitenwand eingelassen, senkt sie andächtig ihr Haupt. Die schönste, anmutigste Figur, die ich in meinem Leben gesehen habe. Noch nie hatte ein Gegenstand in mir so sehr das Bedürfnis geweckt, ihn besitzen zu wollen, ich wurde unruhig, zitterte, ich wollte sie angreifen, fühlen, sie jeden Tag sehen! Diese Statuette hatte mein Herz erwärmt, und ich wusste nicht mehr, wie ich ohne sie gehen sollte.“
Der Meister schwieg eine Weile, bevor er seufzte und antwortete: „Du verschwendest dein Leben, Hass und Reue, Lust und Gier blenden dich. Aber der Luxus, den du suchst, wird dir nicht helfen, er vernebelt deine Wahrnehmung! Entsinn dich der Tage, als wir beide Sallust übersetzten, ehrgeizig darauf, Neues zu erfahren. Erinnere dich an die Catilinischen Reden über Anstand, Zurückhaltung und Tüchtigkeit!“
„Ja, aber nicht immer lässt sich deren Vorbildlichkeit in Gültigkeit umwerten, angesichts dieser bescheidenen Schönheit hätte auch Sallust, der ja, wie du sicherlich noch weißt, selbst im Luxus lebte, nicht widerstehen können.“
W hatte fertig gegessen und noch still zugehört, verlor nun aber das Interesse und verließ das Zimmer, denn Antworten, die mit „ja, aber“ oder „nein, aber“ begannen, waren … als ob der Gesprächspartner im besagten Fall nie ernsthaft antworten könnte, als ob die Meinung immer abgeschwächt wurde, um nicht zu enttäuschen oder zu verletzen.
In der Offizin herrschte Unordnung. Die beiden alten Freunde hatten den Nachmittag damit verbracht, Texte zu studieren, besonders prächtige Handschriften aus der Sammlung des Meisters zu begutachten und sich über neue Bücher zu unterhalten.
In den vergangenen Tagen hatten sie simple Einblattdrucke hergestellt, zum Verkauf bei einer Zeremonie, bei der Reliquien unter den Fließen vor dem Altar vergraben werden sollten. Die frisch bedruckten Bögen, die zum Trocknen am Fenster aufgehängt waren, bewegten sich sanft im Wind, und W kontrollierte gewohnheitsmäßig, ob die Klafterschnüre der Druckerpresse intakt waren, ob die führende Schiene, die sogenannte „Büchse“, sauber war und ob der Pressbengel, der in der Spindel steckte und dafür verantwortlich war, dass sich die Druckform nicht drehte, keine Risse hatte. Seit dem ersten Tag ging von dieser Maschine eine Faszination aus: wie sie mit ihrer metallenen Sprache immer wieder das gleiche von sich gab, leise ächzend beim Drucken, nachdem die Druckform eingehoben, die Farbe gleichmäßig auf die Typen aufgetragen und schließlich die Spindel gedreht war. Schritt für Schritt hatte W den ganzen Vorgang gelernt; hatte gelernt, wie man das Manuskript berechnete, dass man auf Zeilenmaß, Durchschuss, Seitenaufteilung und Überschriften achten musste und eine Manuskriptseite ungefähr vier Druckformen füllte. Der Meister hatte auch gezeigt, wie man die Lettern auf dem Winkelhaken zusammenfügte und sie dann, Zeile für Zeile, auf das hölzerne Setzschiff gab, immer darauf bedacht, Einheitlichkeit und Ordnung in den Text zu bringen. Sie druckten meist im Quartformat, und so mussten sie immer vier Seiten im Voraus setzen, die fünfte, vierte, achte und erste Seite im Schöndruck, also dem ersten Durchgang, und die dritte, die sechste, die zweite und die siebente auf der Rückseite, im Widerdruck. Exaktes Arbeiten war hier eine unumgängliche Voraussetzung, damit die Zeilen auf der Vorderseite und der Rückseite auf gleicher Höhe waren.
Beim Ordnen der Fixierkeile, mit denen die Druckform und die Bundstege im Schließrahmen justiert wurden, bei der Berührung des glatten Holzes, kam eine Erinnerung an die ersten Tage in der Druckerei auf. Wieviel hatte sich verändert seit damals, vom Aufkehren und Waschen der Druckerpresse mit heißem Laugenwasser bis zum letzten Arbeitsschritt, dem Zusammenlegen der Bogen, dem Falzen und Schneiden und Binden.
Gedankenverloren strich W über die Oberflächen der kleinen, kalten Metallklötze im Setzkasten, der in seinen 110 Fächern tausende Typen beherbergte, Groß- und Kleinbuchstaben, Ligaturen, Sonder- und Satzzeichen, Zahlen und große Typen für die Titel. Es war bereits zu dunkel und im Flackern der Öllampe waren die Einzelheiten nicht mehr erkennbar, nur an der Größe der Fächer konnte man einschätzen, welcher Buchstabe wo war. In der untersten Reihe, den größten Abteilen, lagen die Kleinbuchstaben A, E, I, N, R, T, U und die verschieden großen Spatia für die Abstände zwischen den Wörtern. Dann kamen, der Häufigkeit ihrer Verwendung nach geordnet, die restlichen Lettern, tausende kleine Metallblöcke, die einmal Wörter ergeben würden, so wie sie es schon so oft getan hatten.
Als B fertiggelesen hatte, blickte sie kurz über die Felder, bevor sie M in die Augen sah und zu sprechen anfing: „Naja, man merkt, dass du einiges über das Mittelalter gelesen hast, und ich denke, es ist dir auch gelungen, die Sprache zu imitieren. Und auch die alten Fachbegriffe, über die wir vorher schon gesprochen haben, gefallen mir ganz gut, auch wenn ich fast nichts davon verstehe. Aber du darfst nie vergessen, an dein Publikum zu denken: verstehen die Leute was du meinst? Ist die Geschichte spannend? Passiert überhaupt etwas Besonders, oder beschreibst du nur, was ein einzelner Mensch macht, denkt und fühlt, isst? Ich verrate dir nämlich etwas: das interessiert die meisten nicht, sie wollen Liebe und Hass, Streit und Versöhnung, Frieden und Krieg…“
Als sie von ihrem Spaziergang zurückkamen, hatte das Fest schon begonnen. Die Menschen saßen rund um die großen Tische und unterhielten sich, und auf der einen Seite des Platzes, vor dem neu gebauten Stall, spielte eine Band. M setzte sich hin und hörte den Leuten zu. Ihm gegenüber wurde darüber diskutiert, ob es legitim sei, Entscheidungen im Nachhinein mit dem Argument zu rechtfertigen, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt nach den besten Maßstäben und sämtlichem vorhandenen Wissen entschieden worden war und ob es das nicht zu einfach machte, Fehler zu entschuldigen; daneben erzählte jemand, besonders im Frühling ein Gefühl von früher zu verspüren, wie ein ganz leichtes, sanftes Schweben, dass für einen kurzen Moment Kindheitserinnerungen aufblitzen ließ. Das sei zwar ähnlich bei jeder Jahreszeit: der erste Frost, der erst Sprung ins Wasser oder die ersten bunten Blätter – aber nie sei es so intensiv wie jetzt im Frühling, wenn ein leichter Föhnwind, die passende Lichtstimmung oder der Geruch der Schneeschmelze schon ausreichten. Gerade als sich die Frage aufzudrängen begann, ob diese Kindheitserinnerungen nicht gerade aus einer schwierigen und gefährlichen Zeit stammten, kam von der anderen Tischseite die Frage, ob M aus der Gegend sei oder auch auf der Durchreise. Nach einer kurzen Antwort erzählte das Gegenüber, unterwegs zu sein, um Menschen zu fotografieren und holte dann einige Fotos aus der Tasche, um sie über den Tisch zu reichen. Kurz darauf schon fokussierte die Polaroidkamera auf ein weiteres Gesicht und es dauerte nicht lange, bis auf einem rechteckigen Stück Karton die Umrisse von Ms Augen, Haaren und Mund und schließlich auch der Rest Gestalt annahmen. Seltsam, sich aus einer Außenperspektive zu sehen, sowie einen die Anderen wahrnahmen; wer konnte schon unterscheiden zwischen Wirklichkeit und Inszenierung – auch selbst konnte man sich nie ganz sicher sein, was echt war, beim Gehen, Denken, Sprechen. Eine Vorstellung von sich selbst, eine unmögliche Wirklichkeit … Behutsam wurde das glänzende Foto zwischen die Seiten des Notizbuches gelegt.
Einige der Gäste waren bereits aufgebrochen, und auf der Wiese weideten nur mehr die Pferde jener, die über Nacht bleiben wollten. Leichtes Zahnweh veranlasste M, mit der Zunge ständig die schmerzende Stelle zu betasten und wegen dieser Kleinigkeit verschob sich die Wahrnehmung – als würde man die Innenseite eines fremden Mundes erforschen. Ein Stückchen zerkauter Weidenrinde sollte die Schmerzen lindern, und eine Made beobachtend, die an der Decke über dem Bett entlang kroch und sich vorstellend, wie sie in ihrer eigenen Wüste unterwegs sei, ohne Aussicht auf Erfolg oder einer Ahnung davon, wie die Welt hier unten aussah, dachte M an das Gespräch am Nachmittag: mehr Spannung erzeugen, es muss mehr passieren! Ein Überfall unterwegs, ein überraschendes Unwetter oder … oder ein einziger, langer Blick, zugeworfen quer über die Straße, oder über das Getümmel eines Jahrmarktes hinweg … dieser Blick könnte so tief berühren, dass die Augen eine ständige Reisebegleitung wären … bei jedem Schritt die Hoffnung, sie nach der Rückkehr wieder zu finden … Die Idee war schön und wollte notiert werden. Beim gedankenverlorenen Durchblättern der Notizen fand sich noch eine freie Stelle Papier nach dem Moment, als die Hauptfigur endlich das Reiseziel, den Wendepunkt erreicht:
kalter Wind pfeift durch Lärchen- und Fichtenwälder, geht den Weg am Bachbett entlang hinunter, Bach rinnt weiter ins Tal, überquert Senke und sieht auf der gegenüberliegenden Seite die ersten Höfe und Häuser, die sich halb hängend in den Abhang graben, Wiese: hartes borstiges Gras wiegt sich im Wind, erinnert an Wasser/ See/ Wellen, Dann im Dorf: Aus verschwommenen Umrissen werden beim Näherkommen Häuser, Festung liegt oberhalb, versteckt und eingebettet in Wald, roh behauene Steine, Dächer aus Holzschindeln, geht Dorfstraße hinauf, Kinder spielen mit Steinen, altes Pärchen auf Bank, Hämmern und Rufen aus Werkstatt, schließlich an das große, mit Eisen beschlagene hölzerne Tor klopfen
Die Szene führte schon seit Wochen ein Eigenleben, entwickelte sich und verschob selbstständig Einzelteile in sich hin und her: als Nächstes sollte sich ein kleines Guckloch öffnen, und von einem einzelnen Auge beobachtet würde die Figur gefragt werden: Was willst du? Zögerlich und stotternd dann die Antwort: Noten bring ich, woraufhin das Loch in der Tür wortlos geschlossen werden würde und sich dann, nach einer Wartezeit, gerade als es unangenehm geworden war, plötzlich und unvermutet ein kleines Portal öffnen würde, das in das große Tor eingearbeitet wäre. Ein kleines, dickes Wesen nickt kurz und geht voraus auf das Hauptgebäude zu durch den Innenhof, in dem es wüst aussieht: Tische und Bänke sind umgeworfen, Teller, Flaschen und Scherben über den Boden verstreut und in der Ecke rauchen die Überreste eines Feuers. In einem Strauch hängt ein Kleid, daneben sitzen zwei und stoßen gerade mit filigranen Kelchen an, so dass zu befürchten ist, das Glas könnte zerspringen; ein paar Schritte weiter schläft jemand laut schnarchend und in ein Tischtuch eingewickelt am Boden, nur ein Fuß ragt heraus. Dann haben sie den Hof überquert und die Hauptfigur wird gebeten, kurz in einem ruhigen und gesättigten Raum im Erdgeschoss zu warten – ein Raum, bei dem man das Gefühl hat, alles würde angenehmer klingen. Durch ein kleines Bogenfenster mit breitem Fensterbrett sieht man hinaus in den Hof und schon hört man Schritte am Gang hallen. Eigentlich ist der Weg zur Fürstin, oder zum Fürsten? - das ist noch offen - also eigentlich ist der Weg unangenehm, aber da geht W schon den Gang entlang auf eine offene Tür zu, dahinter ein müder Monarch, verwirrt aber freundlich, Händeschütteln, die Übergabe der Notenrolle. Während der Durchsicht der Blätter rhythmisches Kopfwippen, die Hauptfigur hat Zeit, genauer hinzusehen: hier könnte ich das Aussehen genauer beschreiben, zerdrücktes Gewand, die zerstrubbelten Haare…bloßfüßig? Dann die überraschende Frage, ob man noch kurz ins Musikzimmer gehen wolle, ich lasse die Fürstin vorausgehen und etwas über Musik erzählen: von der Stimmungsbeeinflussung durch Lieder, den Tonsystemen fremder Länder, von der Sphärenmusik der Planetenbahnen in der Antike und von Pythagoras oder Aristoteles. Dazwischen oft unnatürliche Pausen mitten im Satz, um nach der nächsten Ecke nahtlos fortzufahren, was besonders am Weg über eine steile Wendeltreppe auffällt. Hier könnte auch noch das Schattenspiel hineinpassen, durch kleine Fenster, eher wie Schießscharten, könnte man ins Tal beziehungsweise in den Hof sehen, wo eine große weiße Leinwand zu erkennen ist, auf den verwunderten Blick hin dann die Erklärung: bei jeder Festtafel werde ein Spiel aufgeführt, bei dem die Schatten von Handpuppen begleitet von Musik eine Geschichte erzählen. Diese neue Idee wollte sich M schnell notieren:
Schattenspiel: Überlegung: Alles ist aufgesetzte Fassade, angestaute Ideen von sich selbst, als sicherer Schirm vor den anderen und sich, aber wer sich zu viel aufplustert droht mit der Zeit zu platzen… muss ein unerwarteter Einschub sein, nach dem das Gespräch über Musik weitergeht, als wäre es nie unterbrochen worden
M blätterte zurück und suchte im schwachen Licht der Kerze die zwei Sätze, die oben im Musikzimmer angelangt dann fallen sollten: noch einmal die Noten durchsehen und über die Beschaffenheit der einzelnen allegros und allegras der Castello-Sonate reflektieren, damit auch klar würde, warum die einzelnen Abschnitte des Textes so hießen, und während die Hauptfigur, also W, aus dem Fenster blicken und sich über das Gefühl freuen würde, dass man vom Turm aus auf einer Ebene mit den Baumwipfeln war und wie ein Vogel eine neue Sicht auf die Welt hatte, würde die Fürstin sagen:
Bilder halten die Zeit fest, Musik ordnet sie. Sie ist wie die Mathematik ein Mysterium der Zahlen.
Diese Weisheiten wirkten wie so manche Stellen im Text aufgesetzt und wichtigtuerisch – das war noch einmal zu überarbeiten, genauso wie das Bild das Manduka-Falters, das an der Wand hängen sollte. Draußen war es ruhig geworden, und das Rascheln der Holzwespen in den Dachbalken ließ die Farben des Tages langsam verblassen.
Fürstin empfiehlt neuen Weg, nicht dieselbe Strecke zurückgehen müssen, Reflexion darüber, was besser ist: etwas Neues erleben oder etwas Altes aus ungewohnter Perspektive sehen, nimmt Vorschlag an und geht am Wasser entlang ins Tal, kommt so schneller in die Stadt, Vorfreude und schnelles Gehen
Bevor der beginnende Tag diese Ideen vertrieben, der Wind die Gedanken verweht und die Sonne die Wörter ausgebleicht hatte, notierte M schnell, was nach dem Aufwachen noch greifbar war. Ein rasches Frühstück, eine Erinnerung von B an die benötigten Batterien und das Versprechen, danach zu suchen, das Verstauen der frischen Lebensmittel und schon galt es, sich wieder auf den Weg zu machen, hinunter durch die Kastanienallee, wie aus einem Traum gerissen von einem seltsamen Gedanken: Ich kenne es nicht anders und kann mir schwer vorstellen, wie es gewesen sein muss, als die Menschen noch mit Geld bezahlten. Erst der Vortrag in der Einsiedlerhöhle hatte verdeutlicht, dass die strukturelle Gewalt des Kapitals die Vorstände der Unternehmen zu Unmenschen gemacht hatte, dass die Politik als einziger Puffer zwischen der Realität und der Finanzfiktion immer mehr Macht verloren hatte und dass die Menschen sich immer weniger dafür interessiert hatten, was um sie geschehen war, da sie das Gefühl hatten, mit ihren eigenen Problemen kaum fertig zu werden. Die Wahlbeteiligung sei zurückgegangen, niemand hätte mehr Überblick über die großen Zusammenhänge gehabt, alles hätte sich verselbstständigt. Die unübersichtliche Verschränkung von Geldgeschäften und Sozialpolitik war unverantwortbar geworden, ohne an die Auswirkungen zu denken ratterten alle ihre Programme herunter, mit zugemüllten PCs und prädementen Gedankenwelten. Nach Mama und Papa sei das dritte Wort des eigenen Kindes Auto gewesen, hatte F mit glänzenden Augen erzählt, so sehr hatte sich die Wirtschaft schon in das Leben eingeschlichen, deshalb das Umdenken. Unwissend, wie es sein könnte, hatte F begonnen, nach Neuem zu suchen, wie ein Hund, der Witterung aufgenommen hat. Als sei das Gespräch schon Wochen her, erinnerte sich M, wie im Dunkeln ein Streichholz entzündet worden war und F in dem Moment, in dem der Docht der Kerze zu brennen begonnen hatte, zu sprechen angefangen hatte. Oder war es ganz anders gewesen? War es eine vorgestellte, herbeiphantasierte Erinnerung?
Ohne es genau zu wissen, erscheint es manchmal doch so, als ob man sich beinahe jedes einzelnen Wortes entsinne könne, und auch hier kam die Erinnerung an das Gesagte zurück, ohne an Klarheit zu verlieren: die großen Börsenzentren seien immer mächtiger ausgebaut worden, mit spiegelnden Glasfassaden und bewaffneten Sicherheitsdiensten – wie ein Baum, der kurz vor dem Absterben, im letzten Aufbäumen noch einmal besonders viele Zapfen produziert. Immer größere und stärkere Glasfaserkabel seien verlegt worden, in hunderten Metern Tiefe unter dem Meeresspiegel, die die großen Finanzzentren verbanden, um beim Aktienhandel durch den kleinen Zeitgewinn von ein paar Sekundenbruchteilen noch höhere Renditen zu erzielen. Sicher vor elektromagnetischen Impulsen, mit denen bereits gerechnet wurde, sei so in den bunkerähnlichen Kellern die Ausbeutung und der Untergang vorangetrieben worden. Die Reichen waren also reicher geworden, weil ihr Geld für sie arbeitete und sich von allein vermehrte, die Armen ärmer, weil die Dinge teurer wurden und die Schere zuschlug. Laut F hätten sie früher begreifen müssen, dass eine endlose Steigerung nicht möglich ist, eigentlich hätten sie aus Monopoly oder Catan lernen können: wenn jemand das Spiel gewinnt, müssen andere verlieren, es entsteht nicht mehr, nur die Verteilung ändert sich.
Die Sätze und Phrasen kreisten durch den Kopf, unbekannte Begriffe und noch nie gehörte Ausdrücke ließen den Blick ständig von der staubigen Straße wegwandern, und in der Mittagspause, im Schatten einer Linde, notierte sich M einige Dinge und las dann die eigene Erzählung weiter:
ADAGIO
W war vor Sonnenaufgang aufgebrochen, über die graubraunen Felder gewandert, am Fluss und der Au entlang bis zu den Ausläufern der Berge. Von dort an schlängelte sich ein kleiner Fußweg, der an einer von Johanneskraut umwucherten, schief und kümmerlich am Waldrand stehenden Markierung abbog, den anfangs bewaldeten und dann steinigen Hang hinauf und führte an einen kleinen Wasserfall, dessen eiskaltes, klares Wasser zu einer ersten Rast im Morgengrauen einlud: ein runzliger Apfel und eine Handvoll Kerne. Danach folgte ein vorsichtiger Blick, ob die Rolle mit den Noten und der versiegelte Begleitbrief, in dem sich der Freund des Meisters für sein Fernbleiben entschuldigte, noch unversehrt waren. Alles war in Ordnung und W blickte erleichtert hinunter.
Der Nebel, der jeden Morgen vom Fluss und den sumpfigen Gebieten aufzog, lag noch über der Ebene, so dass man wie am Ufer eines großen Sees auf eine riesige, milchig-trübe Fläche blickte. Es blieb genug Zeit. Der Händler hatte erklärt, dass man von der Weggabelung bis zur Burg eine Tagesreise brauchen würde, und dass es nicht empfehlenswert sei, spätabends auf der Burg vorzusprechen. Um dies zu vermeiden, wäre es besser, in einer der Hütten im Hochtal zu übernachten und erst am nächsten Morgen die Schriftstücke zu überreichen. W fand diese Anweisung zwar seltsam, wollte sich aber nicht gegen die Ratschläge wenden und war jetzt außerdem ganz darüber froh, kurz die Füße entlasten zu können. Es war zwar immer noch bewölkt, aber inzwischen war die Sonne vollends aufgegangen und erhellte die Landschaft. Der Nebel lichtete sich langsam, zog in dünner werdenden Schwaden flussabwärts und gab den Blick frei auf das erwachende Land.
Vertraut, aber doch fremd spürte W, wie sich ein Bewusstsein des eigenen Selbst einstellte und sich in eine natürliche Ordnung einfügte, in die Einsamkeit einfühlte. Gewachsen und lebendig und dennoch statisch und tot lag die Ebene wie ein Gesicht ausgebreitet – die Stadt wie eine Narbe, aus der Ferne klein und schutzlos der Umgebung ausgeliefert. Die Augen waren beschäftigt und der Geist wurde ruhig, der Kopf durch die Übersicht entlastet und befreit, die vergangenen und kommenden Tage erschienen klein und unwichtig, und noch nie war W sich der eigenen Gegenwart so sicher gewesen.
Das Plätzchen war schön. Ein Stückchen in den Hang zurückversetzt schmiegte es sich windgeschützt an den Felsen und von oben plätscherte ein wenig Wasser über einen Vorsprung, das sich glasklar in einem kleinen Becken sammelte, bevor es als fröhliches Rinnsal den weiteren Weg antrat. Links und rechts fiel der Berg steil ab, so dass kaum Pflanzen überleben konnten, vereinzelt krallten sich Zirben oder Lärchen an größeren Felsbrocken fest, die Wurzeln in den steinigen Boden gebohrt. Nur da, wo W saß, war der Boden eben, so hatte sich in der Nische im Laufe der Zeit fruchtbare Erde angesammelt. Der Hang war gegen Süden gerichtet, dadurch hatten die Pflanzen genug Licht, weshalb auf der kleinen Wiese schon die Buschwindröschen mit ihren sechsblättrigen weißen Blüten und die zierlichen Schattenblümchen blühten, an der Felswand waren auch Leberkraut und Sanikel zu entdecken, nur das Kreuzkraut ließ sich noch Zeit. Einige Stängel Sauerklee kauend machte sich W für die Weiterreise bereit. Aus vergangenen Zeiten waren noch die Reste eines alten Torbogens erkennbar, von sprießenden Brenneseln gesäumt, die sich im Sommer zu einem Gestrüpp ausbreiten würden, die aber auch jetzt schon vorsichtig durchquert werden mussten. Dahinter begann ein kleiner Steig, der sich durch die Geröllhalden schlängelte, sich manchmal verlor, der manchmal von heruntergestürzten Felsen versperrt oder teilweise von Gestrüpp verdeckt war.
ALEGRO
Um die 16. Stunde war die Oberkante des Abhangs erreicht. Die Fußsohlen schmerzten von den spitzen Steinen und W war müde, Knie und Hände waren aufgerissen und zerschrammt, aber ab hier sollte der Weg leichter werden. Weite, mit borstigem, kurzem Gras überzogene Hochalmwiesen erstreckten sich bis zu den bedrohlichen, sich in einiger Entfernung erhebenden Berggipfel, und über einen Grat zwischen ihnen würde der Weg wieder hinunterführen. Inzwischen stand die Sonne hoch am wolkenlosen Himmel und abseits des kleinen, immer wieder verschwindenden Steiges pfiffen sich die Murmeltiere kurze Warnungen zu.
An dieser Stelle wollte M das Gehen beschreiben, wie man Schritt für Schritt den Rhythmus fand und den Atem sich auf die Bewegung einpendeln ließ: Links-rechts, ein- und ausatmend; und jeder Tritt auf dem geschotterten Weg macht ein neues Geräusch.
Am Vorabend hatte ihr Gast einen Vorschlag gemacht: die Zeit drängte und eine Weiterreise am nächsten Morgen war unausweichlich, deshalb sollte W einen Druck in die südöstlichen Berge bringen, zu Adeligen, die mit ihrer Dienerschaft in einem entlegenen Seitental lebte. Verunsichert ob der auferlegten Verantwortung, aber erfreut über die versprochene Belohnung hatte W den Auftrag zögerlich angenommen und sich den Weg erklären lassen. Ein Brief für die Fürstin war noch aufgesetzt worden, und dann war es Zeit für die Nachtruhe gewesen.
Der Weg war leicht und es blieb genug Zeit, sich umzusehen. Auf den Felsbrocken ringsherum schufen die Flechten und Moose bunte Muster, und vereinzelt standen Schieferblöcke schräg in den Himmel, so dass man ihre verschiedenen Schichten gut erkennen konnte. Ein herber Wind wehte hier und der Mantel bot willkommenen Schutz. Es dauerte nicht lange, bis der Weg an die Oberseite einer Geröllhalde führte, über die man nun bis zu einer gemächlich abfallenden Wiese hinuntersteigen musste. In einiger Entfernung war bereits die Waldgrenze erkennbar, und W rastete kurz bei einer kleinen Siedlung, die sich rund um einen Brunntrog in eine Mulde duckte. Die drei verlassenen Hütten waren zur Gänze aus Stein gebaut, selbst die bereits eingestürzten Dächer waren mit massiven Platten belegt worden, nur die Türen und die Dachstühle waren aus Holz gewesen. Einige Eidechsen sonnten sich auf den aufgeheizten Steinen und huschten, vom menschlichen Schatten erschreckt, davon.
Von den Steinhütten nach unten führte ein Weg zuerst in den Wald, und dann über Wiesen und an Heuschobern vorbei zu einer weiteren Hütte. Die Tür stand offen, aber auf ein Klopfen antwortete niemand. An der Rückseite des Gebäudes befand sich der Eingang zum Stall, aus dessen Halbdunkel das gelegentliche Schnauben der Kühe und das Summen der Fliegen drangen. W betrat den muffigen Raum, grüßte, und fragte den Senner, der sich aus den Schatten neben einer Kuh löste, ob man hier übernachten dürfe. Auf die Frage, wie weit es noch zur Burg sei, kam erst nach einer längeren Pause eine Antwort: es sei noch ein knapp fünfstündiger Fußmarsch, aber die täglichen Sommerfeierlichkeiten der Fürstin begannen bereits vor Sonnenuntergang und es wäre besser, erst morgen Früh weiterzuziehen. W bedankte sich und wusch sich an einem Brunnen, der an der dem Tal zugewandten Seite der Hütte stand. Das frische Quellwasser plätscherte stetig und beruhigend aus einer hölzernen Rinne, und am Boden des Troges hatte sich eine dicke Schlammschicht abgesetzt. Im gleißenden Licht des späten Nachmittages warfen die Felsabhänge scharfe Schattenkonturen, die allmählich länger und dunkler wurden.
Wie gut wäre es nun gewesen, kurz die Augen zu schließen und sich auszuruhen, aber da der Weg noch weit war blieb keine Zeit für eine Pause, denn es war empfehlenswert, vor der Dunkelheit wieder unter Menschen zu sein.
Am Rückweg zum Rad drückte etwas im Schuh, und auf einem Bein hopsend schüttelte M ein kleines Steinchen heraus und verlor beinahe das Gleichgewicht beim Versuch, ihn wieder anzuziehen. Veränderung und Verbesserung, die Widerstände beseitigen und den Weg frei von Steinen machen, den Sand aus dem Getriebe putzen, die Melodie suchen und das Gleichgewicht finden! Darüber hatte F auch gesprochen, vom vorhandenen Verwirklichungspotenzial und davon, dass die Menschen etwas Anderes werden könnten. So wie das Individuum im Laufe des Lebens erst erkennen müsse, wer es ist und was es werden könne, müsse sich auch die Gesellschaft Schritt für Schritt verändern und den oft selbstverschuldeten Umständen anpassen, die eigene Harmonie, den passenden Klang und die Abstimmung ihrer Einzelteile wieder finden. Dabei spielten Visionen eine wichtige Rolle für das Umdenken, hatte F immer wieder betont, denn ohne Vorstellung davon, wie es sein könnte, kann keine Richtung eingeschlagen, kein Ziel angestrebt werden. Und allein dieser Wille es zu erreichen mache den Menschen aus, bereits der Versuch verändere und bestärke: der Weg werde begehbar. Man dürfe aber nicht vergessen, dass kein System völlig zusammenbreche. Die Menschen seien dazu fähig, sich einzurichten und die Überreste umzustrukturieren. Wo der alte Wald gefällt werde, wachse ein neuer nach, man brauche sich ja nur umblicken. Neue Ordnungen und zwangsläufig wohl auch Hierarchien, von anderen Gegebenheiten geprägt und vielleicht auf Wesentliches fokussiert – näher an dem, was den Menschen eigen ist. Der Gegendruck der Pedale wurde mit zunehmender Geschwindigkeit geringer und die Gesprächsfetzen kamen schneller zurück, drehten sich und wirbelten herum: die, die an den Hebeln der Macht saßen, an den einarmigen Banditen der Weltwirtschaft, die wussten, was sie taten oder eben auch nicht und die das Sagen hatten, genau jene wollten nichts an der Lage ändern – mit guten Karten will man nicht neu geben und mit voller Hose stinkt man leicht. Von den Außenseiten habe die Verwandlung angefangen, von denen, die betroffen waren und gesehen hatten, was sich ändern musste. Es seien diejenigen wichtig geworden, die nicht oben saßen – unwissend bezüglich eines Systems, das selbst die Mitspielenden nicht mehr durchschauten, hatten sich Außenstehende einen klareren Blick für das Wesentliche bewahrt, hatten wie von selbst und völlig natürlich ihre Solidarität gezeigt. Statt Sendungen, in denen der kurze Aufenthalt in einem Windkanal voller Geldscheine, die man sich in die aufgeplusterten Taschen stopfen durfte, den zufällig Auserwählten ein vergängliches Lächeln in die sonst versteinerten Gesichter zauberte, statt endlosem hin- und herzappen zwischen Kabarettprogrammen und Dokumentationen über Amokläufer, war plötzlich wieder eine wohltuende Unmittelbarkeit zu spüren gewesen: unbekannt, aber doch schnell vertraut.
Das Geflecht ausufernder Geschäftsbeziehungen – dabei hätte kein Netz ausgeworfen werden sollen, um so viel wie möglich einzufangen, vielmehr hätten die Menschen auf diesen neuen Wellen der technischen Möglichkeiten selbst in die Welt reiten können – war nach und nach lose und der Mangel immer spürbarer geworden, schließlich wurde es auch den Letzten klar … Konzerne hätten sich gnadenlos um die letzten Rohstoffe bekriegt in von Hightech-Geräten geführten Gefechten, vor denen die Menschen zu fliehen versuchten. Die Gewinne seien immer geringer geworden, die Natur habe aufgehört mitzuspielen, und plötzlich habe es die Mächtigen selbst betroffen: hineingetrieben aus sorgloser Gier, oder aus Fahrlässigkeit oder Dummheit. Zu lange ignorierte Probleme, die sich ausgebreitet und aufgeschaukelt hatten, und schon sei ein Punkt überschritten gewesen: Tränengaskanister in den Straßen, Militäreinsätze gegen das eigene Volk, Sicherheitsschleusen vor Wohnsiedlungen, Piratenschiffe in den leergefischten Ozeanen, Viren und Überschwemmungen … Am Anfang sei es langsam, dann aber Schlag auf Schlag gegangen. Rückblickend erscheint es unvermeidbar, sogar leicht vorherzusehen: die, die vorher nichts gehabt hatten und die Auseinandersetzungen überlebt hatten, lebten wie zuvor, und jene, die viel gehabt hatten, waren eines Besseren belehrt worden.
Links und rechts der Straße, wo früher Äcker und Wiesen gewesen waren, hatten sich die Wälder ihr Territorium zurückerobert. M hielt neben einer völlig von Gestrüpp überwucherten Ruine an, in deren Mitte nur mehr ein Teil des Kamins nach oben ragte. So nahe am Weg und nach so vielen Jahrzehnten wäre wohl nichts mehr zu holen, aber um sich den Hintern abzuwischen würden die großen Blätter eines Nussbaumes gute Dienste leisten. Durch ein Garagentor aus Aluminium, das dem sich darüber windenden Efeu noch lange als Stütze dienen würde, gelangte man ins Innere. Im Laufe der Zeit waren die Fenster geborsten, der Dachstuhl war zusammengebrochen und die Temperaturschwankungen und der Schimmel hatten die Wände brüchig gemacht und schließlich einstürzen lassen. Die herein gewehten Blätter und das herum liegende Holz waren ein nährstoffreicher Boden für neue Pflanzen und Lebensraum für einige Tiere geworden, aber M war sich sicher, dass sich unter der Humusschicht noch unzählige Gegenstände befanden, die wohl für immer begraben bleiben und an das vergangene Leben hier erinnern würden.
Der Lastwagen war schon lange zu hören, bevor zuerst eine Staubwolke und dann ein buckliges Gefährt zu erkennen war, das stotternd und quietschend zu stehen kam: ein dunkelgrünes Ungetüm mit einem großen, zylinderförmigen Tank aus Messing auf der Ladefläche. Während sich der Staub legte, schwang die Tür auf: schwarze, gebügelte Hosen, ein weißes Hemd, darüber ein dunkelrot schimmerndes Gilet, dunkle Schminke und ein großer, glitzernder Hut. Eine goldene Taschenuhr wurde hervorgeholt, aufgeklappt und konsultiert: „Na, um diese Zeit noch unterwegs? In ein paar Stunden wird es wieder dunkel und somit Zeit, sich in Gesellschaft zu begeben, bevor die Nachtschwärmer über die Landstriche herziehen. Woher kommst du? Willst du in die Stadt? Da wirst dich aber beeilen müssen!“
M zögerte. Das Gegenüber war nicht unsympathisch, aber doch ein wenig suspekt, und so brauchte die Antwort einige Augenblicke, ein paar Atemzüge: „Ich komme von der Siedlung am Hundsrück und will tatsächlich in die Stadt. Den größten Teil des Weges habe ich ja bereits hinter mir, das geht sich aus.“
„Ah, von B also“, brummte es von der Rückseite des Fahrzeugs, von wo das Poltern und Herumhantieren mit einem Scharnier oder einer Klappe zu hören war.
„Wenn du den ganzen Weg von dort bis hier so schnell zurückgelegt hast, schaffst du es wahrscheinlich wirklich bis zum Abend. “
Behutsam, um sich nicht schmutzig zu machen, wurden nun fingergroße Holzstückchen aus einem Jutesack in einen kleinen Ofen unterhalb des Metalltanks geschüttet. „Ein Holzvergaser“, kam zur Erklärung, „und wenn ich schon einmal ausgestiegen bin, dann kann ich auch gleich nachfüllen.“
Nach dem Verriegeln des gusseisernen Ofentürchens wurde der Sack wieder zugemacht und ächzend auf die Ladefläche gehievt, woraufhin auch die Lederhandschuhe ausgezogen und in die Kabine geworfen wurden. Vom Trittbrett herunter traf M noch eine Frage, bohrend und scharf: „Ach ja, bevor ich es vergesse: brauchst du irgendetwas? Ich habe Kartoffeln, Fensterrahmen, ein Solarpanel und eine Nähmaschine, einiges an Kleinkram. Aber ich tausche nur gegen Sachen, die ich wirklich brauchen kann. Also?“
M überlegte, hätte aber nur ein Buch und ein paar Lebensmittel anbieten können, nichts mit besonderem Tauschwert. Ein Blick auf die Ladefläche konnte aber nicht schaden: „Laderegler?“
„Nein, leider. Es sind mir auch schon lange keine mehr angeboten worden.“
„Schade. Dann noch eine gute Fahrt!“
In der Nähe der Stadt häuften sich die Brandrodungen, auf deren ascheschwarzem Boden im nächsten Frühjahr Getreide oder Gemüse angebaut werden würde. Zerfallene und überwucherte Wohnanlagen ließen den Blick manchmal über die Schulter huschen, um sich der Gefahrlosigkeit zu vergewissern, aber Vogelschwärme und Hunderudel waren die einzigen, denen man hier jetzt begegnete, und unbesorgt konnte man durch die Straßen radeln. Von einem ehemaligen Sportstadium standen nur mehr die Stahlbetonträger: wo man früher lärmenden Fußballspielen beigewohnt hatte, konnte man jetzt den Bewegungen der Bäume im Wind zusehen, die die Rasenfläche längst eingenommen hatten. Dann die ersten Häuser am Weg, die intakt beziehungsweise renoviert waren und aus denen manchmal spielende Kinder zu hören waren: hier kannte und grüßte man sich, und hier ließ M regelmäßig bei der kleinen Nudelfabrik seine Metallboxen anfüllen.
Nach der Zeit, in der Profitmaximierung zur weltweiten Religion geworden war und nach den darauffolgenden Nomadenjahren war die Menschheit wieder sesshaft geworden und hatte sich zusammengerottet, kleine Gemeinschaften gegründet. Jede Siedlung hatte ihre Besonderheiten und Aufgaben: während die Bewohner hier Nudeln produzierten, buken jene Brot oder stellten Rapsöl her und wieder andere hatten einen großen Vorrat an mechanischen Geräten, die sie reparierten. Eine Gruppe hatte sich an einem noch funktionierenden Flusskraftwerk angesiedelt und hielt es unter Aufbietung all ihrer Kräfte instand. Es waren funktionierende kleine Einheiten, die das Ganze stabilisierten und aufwerteten. Die meisten bauten ihr eigenes Gemüse an und hielten sich ein paar Nutztiere in den von Bomben in Zeiten der Anschläge und des Fliegeralarms entstandenen Schutthalden. So tummelten sich Hühner und Ziegen in den überwachsenen Ruinen, und immer wieder sah man Gärten und Felder zwischen den hohlen Häusergerippen oder Hängepflanzen an den Fassaden.
Auf dem großen Platz, in dessen Mitte eine Bronzefigur in einem großen Steinbecken stand und an dessen Kopfseite das alte Rathaus stand, war der Bassin des ehemaligen Springbrunnens schon lange zu einem Hochbeet geworden – aber die alten Figuren, aus denen früher Wasser geplätschert war, blickten immer noch mit schmutzververfärbten Augen in die Ferne und weckten beim Überqueren des Platzes das Gefühl, beobachtet zu werden. Das Innere des alten Gebäudes war dunkel und der Wind pfiff durch die kaputten Fenster, aber M war immer wieder erstaunt, wie gut die Struktur erhalten war – unzerstörbar schien das Haus seit Jahrhunderten über die Stadt zu wachen. Über die enge Wendeltreppe ging es nach oben, vorbei an den eingeritzten Liebeserklärungen aus einer Zeit, als die Touristen noch Eintritt bezahlten, um vom kleinen Turm aus die Übersicht zu genießen. Die Stadt lag da wie ein gemauertes Skelett, mit Straßen als Eingeweiden, die schon lange tot waren, nur vereinzelt streifte der Blick belebte Häuserblocks, in deren inzwischen erleuchteten Fenstern Vorhänge als Zeichen menschlicher Existenzen wehten.
M rülpste laut und blickte in die Dämmerung hinaus. Es brodelte wieder das hoch, was F erzählt hatte: Das, was Jahrzehnte davor in Büchern prophezeit worden war, sei schon lange eingetreten gewesen, in manchen Städten hätten die Menschen in winzigen Kabinen gelebt, wie Särge, gerade groß genug, um darin zu schlafen, observiert von fliegenden Robotereinheiten. Sie hätten Unmengen ihres in exakt klimatisierten Großraumbüros hart verdienten Geldes für die Parkplätze ihrer selbstfahrenden Autos bezahlt, die mehr Platz einnahmen als ihre Wohnungen, und mit Menschen zusammengearbeitet, die wiederum irgendwo auf der Welt in ihren rundum transparenten und überwachten Plexiglaszellen saßen. Vom Geschäft mit der Angst hätten nicht nur Versicherungen profitiert, nein, das ganze System habe auf der Hoffnung aufgebaut, die eigene Zukunft so gut wie möglich abzusichern. Gleichzeitig seien von Raumstationen aus Fässer voller Atommüll ins All geschossen worden, Abfallprodukte der Industrialisierung des Weltraums, die unsere Einstellung zur Umwelt auch besser ausdrückten als Da Vincis Zeichnungen auf Raumsonden: hier habt ihr unseren giftigsten Müll, wer auch immer ihn finden möge: viel Spaß damit! Die korrupte Politik hätte sich mit Hilfe wohldosierter Förderung genehmer Gruppen und exakt abgestimmter Öffentlichkeitsarbeit an der Macht gehalten, während harmlose Aktivismusgruppen für Tierrechte durch existenzzerstörende Prozesse unschädlich gemacht worden waren. Als aber die Aufmärsche und Besetzungen immer häufiger und besser organisiert worden waren, hätte der Staat mit Repressionen geantwortet, die Behörden hätten nicht mehr unterschwellig beeinflusst und das korrigiert, was ihnen falsch erschien, sondern hätten angefangen, gegen die eigene Gesellschaft zu arbeiten.
Die Wohnung lag weiter im Norden, und M musste dem Flusslauf noch einige Zeit folgen. Die jahrelange Beständigkeit des Wassers hatte die Bausteine der eingestürzten Brücken davon- oder abgetragen und das andere Ufer war nur mit Hilfe einer Fähre zu erreichen, die an einem über das Wasser gespannten Stahlkabel hing. Besonders hier an den Kais war die Zerstörung deutlich sichtbar. Um das Abwasser zu regulieren und Leitungen zu verlegen, war früher der Boden ausgehöhlt worden, und als niemand sich mehr um die Instandhaltung der Kanäle und Röhren gekümmert hatte, hatten die Verstopfungen und Überschwemmungen Teile des Flussufers weggerissen. Krater hatten sich manchmal unvermutet aufgetan, die ganze Häuserblocks verschluckt hatten, das Wasser suchte sich einen eigenen Weg und war unaufhaltsam in alle vormals von Menschen gesteuerten Bereiche zurückgekommen. Je mehr Gebiet es zurückerobert hatte, desto stärker wurde es und desto leichter kam es voran. Weiter weg vom Fluss lebten in diesem riesigen, geheimnisvollen System verschiedener Tunnel, Gänge, Röhren und Ebenen aber noch ein paar Gruppen, die lieber unter der Erde wohnten und sich in den das ganze Jahr über gleichmäßigen Temperaturen eingerichtet hatten.
Der Skateplatz lag schon im Halbdunkel. Jugendliche hatten hier schon vor Langem begonnen, eine Lagerhalle und die angrenzenden Parkplätze mit dünnen Holzplatten auszulegen und umzubauen, Rampen und Stangen aufzustellen, um dort gemeinsam mit Boards zu fahren, die schon älter waren als sie selbst. M blieb stehen und überblickte das Gelände. Um diese Uhrzeit fuhr niemand mehr, weil es schon zu dunkel war, nur in einiger Entfernung konnte man ein paar Gestalten wahrnehmen, die im Kreis standen, klatschten und beatboxten, lachten und brabbelten. Irgendetwas geschah in ihrer Mitte, schwer zu erkennen, doch wenn sich der Kreis manchmal kurz ein bisschen teilte, war im Zentrum eine Figur auszumachen, schwarz angezogen und mit weißgemaltem Gesicht, die sich auf Arme und Beine abgestützt drehte, die herumwirbelte, einknickte, sich plötzlich fallen ließ, um gleich darauf wieder zurück auf die Beine zu springen, wie von einem Mechanismus gezogen. Die Jugendlichen winkten, und M hob die Hand ebenfalls, das Rad neben sich herschiebend. Ein Plakat kündigte in großen Buchstaben und schwarz-weißen Schemen ein Fest für diesen Abend an: Musik, Essen und Unterhaltung. Das Papier war wohl im selben Kopierer bedruckt worden, in dem auch das Wochenblatt vervielfältigt wurde. Die Zeitung wurde einseitig bedruckt herausgegeben, auf der Rückseite von archivierten Akten aus Ämtern oder eingelagerten Dokumenten großer Unternehmen. Vielleicht schau ich da später noch vorbei, überlegte M – oder ich falle ins Bett und schlafe.
In ihrem Haus wohnten außer ihnen noch mehrere alte Leute, zwei Familien und ein großer Hund. Alle kümmerten sich gemeinsam um die Instandhaltung und hatten auch die Einzelteile für die Regenwasseraufbereitung am Dach gesucht, sie versorgten die Hühner im Innenhof zusammen und kochten abwechselnd für das gesamte Haus. Alle hatten aber auch genügend Rückzugsraum, denn Platz gab es genug.
„Hallooho, ich bin wieder da!“ Die Wohnungstür im zweiten Stock war offen, aber es kam keine Antwort zurück.
Schade, eine Umarmung hätte jetzt gutgetan, aber niemand hatte mit einer so schnellen Rückkehr rechnen können. Eine Kerze in einer zylindrischen, aus rotem und orangem Stoff gefertigten Lampe vertrieb die Dunkelheit. Sie nannten sie Traumrakete, weil sie über ihrem Bett hing und das Licht als einen Kreis mit ausgefransten, zackigen Rändern an die Decke warf. Der Lichtkranz sah dann aus wie ein leuchtendes Auge, wie eine strahlende Iris. Der vertraute Geruch und die stille Pendeluhr an der Wand, die keine allgemeingültige, einheitliche Zeit mehr anzeigte, vermittelten das Gefühl, zuhause zu sein. Am Balkon balancierte eine der Katzen, die in der bewohnten Gegend häufig zu sehen waren, am Geländer entlang. Als stillste Beobachterin weiß sie wahrscheinlich viel mehr über die Vorgänge in unserer Gemeinschaft als wir selbst, dachte sich M, sie hatte sich in den letzten Jahren äußerlich auch nicht so stark verändert wie die Menschen, vielleicht war ihr die Zeit auch anders vergangen. Auf der Bettkante sitzend und Zähne putzend glitt der Blick hinaus in die Stadt. Die Sonne verschwand gerade hinter den Häusern und färbte den Himmel orangerot, und die abendliche Nachbarschaft spiegelte sich im Glas der offenen Balkontür. Die umliegenden Gebäude und Dächer waren nur durch ihre Umkehrung fremd gemacht, zu etwas Neuem, das doch bekannt war - eine ungewohnte Vertrautheit. Eine neue Perspektive! Von ihrem Netz im Eck beobachtete eine kleine Spinne, wie M die Zahnbürste mit ein wenig Wasser aus einem Krug über das Balkongeländer gebeugt ausspülte. Bald war es Zeit für eine neue, denn die Borsten waren schon stark abgenutzt und das blaue Plastik des Griffs sah porös und schmuddelig aus. Auf die Party? Laute Technomusik? Oder hundemüde einschlafen?
Unentschlossen blätterte M im Notizheft:
ADAGIO
Gestärkt von einem kuhwarmen Glas Milch verabschiedete sich W und brach zur letzten Etappe auf. Unterwegs kam die Erinnerung an die Geschichte zurück, die der Senner am Vorabend ganz beiläufig erzählt hatte, eine Pfeife rauchend und den Blick auf das knisternde Feuer im Ofen gerichtet, so als ob das Erzählte für niemand sonst bestimmt war als für die züngelnden Flammen:
In der Gegend habe vor vielen Jahren ein Bauer gelebt, der für seinen Geiz landauf und landab bekannt gewesen sei. Alle Knechte und Mägde hätten Hunger gelitten, und auch die Kinder seien mit knurrenden Mägen in der Stube gesessen, obwohl die Speicher voll gewesen seien. Eines Tages, der Bauer sei gerade auf dem Weg ins Dorf gewesen um ein Geschäft abzuschließen, sei oberhalb einer Felswand eine Gestalt in strahlenden Gewändern erschienen. Mit lieblicher Stimme habe sie gefragt, ob er wohl ein Stücklein Brot für eine arme Familie übrig habe. Frech lachend soll er darauf geantwortet haben, dass er, bevor er jemandem etwas schenke, lieber von den Engeln persönlich Flügel kaufen würde. Daraufhin sei die leuchtende Erscheinung wütend geworden und habe ihm donnernd angedroht, dass er den Rest seines Lebens Pech haben werde. Der Bauer sei darüber so sehr erschrocken, dass er zurückgewichen und über die Felskante hinuntergestürzt sei.
Umgeben vom süßlichen Geruch des Knasterkrautes, dessen in der Nase beißender, aromatischer Rauch in der niedrigen Stube schwebte und sich über den Geruch von Hadensterz und Butterschmalz gelegt hatte, waren die Gedanken noch einige Zeit um die Erzählung gekreist, bis schließlich die Kerzen ausgingen und sie einschliefen.
Der Hohlweg war steil und ausgespült, und manchmal war es nötig, über umgestürzte Baumstämme zu klettern oder darunter durchzukriechen. Auf den vereinzelten Lichtungen lag noch der morgendliche Tau, und W hatte der Kälte nicht mehr entgegenzusetzen als die um den Körper geschlungenen Arme. Nach einiger Zeit wurde das Gelände ebener und der Weg breiter und kurz darauf öffneten sich der Wald hin zu den ersten Feldern des Hochtales. Links und rechts von hohen Felswänden, Lawinenkegeln und steilen Waldhängen begrenzt lagen sie friedlich im reinlichen Morgenlicht, und in der Ferne war bereits eine Siedlung zu erkennen. Einige Nebelkrähen flogen krächzend auf, als W ihnen zu nahekam, und ließen sich dann in der Nähe wieder mit hopsenden Bewegungen nieder.
Dieser Abschnitt war schlecht. Zu direkt, zu märchenhaft, zu eindeutig. Der Gedanke, dass der Text wahrscheinlich unfertig in einer Lade liegenbleiben würde, war quälend, und so landete das Heft in einer Ecke. Wenn ich jemandem verfalle, dann absolut und ganz und gar und ohne Kompromisse, dachte sich M am Weg zur Tür.
Dunkelheit war in den bewohnten Teilen der Stadt kein Problem. Man musste nur aufpassen, sich nicht zu verlaufen, denn die Straßen ähnelten sich und ohne Anhaltspunkte zur Orientierung lief man schon mal in die falsche Richtung. Aber dieser Bezirk war vertraut: einfach die Schnellstraße hinunter und durch die alte Industriezone bis zum „Radieschen“, das neben einer großen Gartenanlage lag. Das mehrstöckige Gebäude war schon vor dem Umbruch eines der wenigen mit Solaranlage am Dach gewesen, damals eine wichtige Adresse in der Stadt, mit Tiefgarage, teuren Geschäften im Erdgeschoss, Büros in den oberen Stockwerken und einem exklusiven Restaurant auf dem Dach. Jetzt nutzten die Leute es gemeinsam nach ihren Bedürfnissen, es gab einen Kopierer, ein Kino, die Bibliothek und neben mehreren Gemeinschaftsräumen auch eine große Küche.
Auf den menschenleeren Straßen kam die Erinnerung an Fs Erzählung wieder: die Politik sei in Justizprozesse verwickelt gewesen und die Konflikte um die letzten in der Erde gespeicherten Energiereserven seien mehr und mehr eskaliert. In allen Bereichen hätte die Übersicht über die Zusammenhänge und die Gesamtabläufe gefehlt: in der Produktion, wo die Arbeitsteilung die Einzelnen zu anscheinend unbedeutenden Unwissenden gemacht habe, austauschbar, so dass kein Glied der Kette die Maschinen lange stoppen hätte können; in der Wissenschaft, wo keine Person jemals das gesamte Wissen auch nur eines Spezialgebiets haben hätte können; oder im Finanzbereich, wo Computer die Gewinne errechneten und die Menschen nur mehr Knöpfe drückten, ähnlich ahnungslos bezüglich der Folgen ihrer Handlungen wie die, die den Finger am roten Knopf der Atomwaffen hatten. Die Mittelbarkeit hatte sie überwältigt. Die Möglichkeit, sich selbst auszulöschen, sei den Menschen nie so richtig bewusst gewesen, dabei hätte gerade die Furcht vor dem durch die Existenz der Sprengköpfe allgegenwärtigen Atomkrieg zum gemeinsamen Handeln anregen können, aber Atomwaffen spielten so wie die Finanzindustrie in einer Liga, die das menschliche Denken übersteigt. Innerhalb weniger Jahrzehnte seien Größenordnungen entstanden, die unsere Vorstellungskraft übertroffen hätten: Ich kann es doch nicht ändern, also besser schnell vergessen. Glücklicherweise seien in unserer Gegend aber keine Nuklearwaffen eingesetzt worden, trotz aller Drohungen, hatte F erzählt: ohnmächtig seien die Sprengköpfe behütet und poliert worden, als letzte Instanz.
M vernahm das Brummen der Bässe bereits aus einiger Entfernung, und beim Einbiegen in die Einfahrt war auch schon der Rapsölgenerator zu hören. Die Party fand auf der untersten Ebene statt, in der „Höhle“, aber schon das Stiegenhaus war voller Leute und von unten drang stickige, heiße Luft herauf: der Blutdruck stieg. Durch eine schwere Metalltür kam man auf ein kleines Podest, von dem aus die Crowd zu überblicken war: sich in pumpenden Rhythmen reibende Körper, glänzend vor Schweiß. Es war eine andere Welt als draußen, mit anderen Signalen, und die Bässe kitzelten in der Nase und wummerten so stark, dass man das Gefühl bekam, sich draufsetzen zu können. Plötzlich stoppte die Musik, auch der Diaprojektor ging aus: jemand mit einem bunten Irokesen kletterte im Halbdunkel auf die Boxen, entzündete zwei verschiedenfarbige Magnesiumfackeln, blickte theatralisch in die Runde und jonglierte tanzend mit den Funken sprühenden Stäben. Ein Raunen erfüllte den flackernd erleuchteten Raum, und als die Musik leise wieder anfing und das Staunen abklang, streiften Ms Augen einen vertrauten Hinterkopf, eine bekannte Silhouette. Wie von einem Magneten angezogen bewegte M sich auf das Ziel zu, sich vorsichtig und mit spitzen Fingern an der feucht-klebrigen, graffitigeschmückten Wand abstützend über die wacklige Eisentreppe hinunter auf die Tanzfläche, von einem Sog durch den Strudel aus frenetisch zuckenden und die Gliedmaßen herumwerfenden Leuten gezerrt, deren unruhige Körper von kleinen Lichtflecken übersät waren. Immer stärker wurde der Wunsch, endlich anzukommen, und es fehlten nur mehr ein paar Schritte, einmal wo dazwischen durchschlüpfen, noch einem Arm ausweichen, als sich der Hinterkopf endlich umdrehte, vielleicht einer Vorahnung geschuldet, und sie sich anlächelten, sich kurz aber innig küssten und um den Hals fielen. Sie spürten die Spannung ihrer Körper und ließen ihre Hände einen Augenblick auf ihren verschwitzten Rücken liegen, während sie sich in die Augen sahen.
„Da bist du ja, meine Spiegelgefährtin“, flüsterte M kaum hörbar und konnte sich für einen kurzen Moment in den Augen des Gegenübers in verschiedenen Perspektiven erkennen, unruhig beleuchtet von den Fackeln. Ihre Gesichter waren so nah aneinander, dass selbst die kleine Entfernung zwischen ihren Augen, die verschiedenen Winkel zwischen ihnen reichte, um im Schwarz der Pupillen kurz zwei verschiedene Ms zu sehen, einmal links, einmal rechts. Dann setzte der Bass wieder ein, die Snares und HiHats wurden in den Fingerspitzen spürbar, die Menge jubelte und fing wieder an zu tanzen und auch sie drehten sich nach vorne und begannen, sich zu bewegen. Sie warfen ihre Köpfe leicht zur Seite, strichen vorsichtig über ihre Arme und Schultern und lehnten sich manchmal sanft aneinander, um sich ihrer Gegenwart zu versichern. Wie betäubt tanzten sie die ganze Nacht.
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