Nebel, Nebel, Nebel. Er scheint uns zu ersticken, zu umschlingen und aufzufressen – wie ein Ungeheuer, dass sich über die Stadt schiebt und ganz langsam aber beständig der Welt die Farben und den Menschen das Lächeln aussaugt, so dass nur vage Schemen zurückbleiben: graue oder höchstens pastellfarbene Figuren, die sich durch die feuchtkalten Straßen schieben.

Noch vor einigen Tagen hoffte ich in der Früh, wenn ich die Haustür hinter mir schloss und mich umdrehte, dass der Himmel ausnahmsweise blau wäre, gar nicht unbedingt wolkenlos, aber zumindest so klar, dass man wenigstens wieder das Gefühl bekäme, irgendwo würde die Sonne scheinen. Oder endlich Schnee, damit die Kälte auch eine Berechtigung hätte! Mit aller Kraft wünschte ich es mir in diesen Momenten, auch wenn ich schon vom kurzen Blick aus dem Fenster wusste, dass es gleich war wie jeden Tag. Inzwischen habe ich auch diese Hoffnung aufgegeben und öffne nicht einmal mehr die Vorhänge.

An der Bushaltestelle redet niemand. Die meisten starren auf ihr Smartphone, vereinzelt blättert jemand durch die bunten, werbungsschwangeren und bildstarken Gratiszeitungen. Der Rauch der morgendlichen Zigaretten verschwimmt mit dem grauen Hintergrund. Mein Blick fixiert die Straße: jetzt irgendwo anders sein. Das! Wäre! Großartig! Im Süden, vielleicht am Meer, Fisch essen, exotische Früchte direkt von den Bäumen nehmen und in das saftige Fleisch beißen…Vielleicht auf einer Insel? Und Wind, der den morgendlichen Nebel vertreibt!

Im Bus sind keine Plätze frei. Mich am Haltegriff festklammernd starre ich aus dem Fenster: wäre das nur ein Flugzeug, das durch eine Wolkenbank flöge, und kein Bus, der alle paar hundert Meter hält, um ein paar griesgrämige Menschen auszuspucken und ein paar andere aufzufressen! An meiner Haltestelle gibt das Fahrzeug mich schließlich frei: eindeutig kein Flugzeug, die Menschen applaudieren nicht, küssen nicht den Boden und warten nicht an einem Fließband auf ihr Gepäck – still verschwinden sie im Nebel, lösen sich in der nasskalten Anonymität der feuchten Straßen auf.

Im Büro starte ich den Computer und hole Kaffee. Zurück am Platz muss ich nur noch das Passwort eingeben und: los geht’s! Ein paar neue e-mails über alte Aufträge, dazwischen ein kurzer Blick in online-Zeitungen und auf social media. Der Wasserspender am Gang blubbert, als jemand mit einem Glas den Hebel nach oben drückt und die Luft, die das herausrinnende Wasser ersetzt, lustig aufsteigt – ich fühle mich ertappt, weil ich gerade in dem Moment meinen momentanen Lieblingssuchbegriff „Lost places“ eintippe. Einige Minuten scrolle ich dann aber trotzdem durch Bildserien von verlassenen Krankenhäusern, verfallenen Fabriken und vermoderten Vergnügungsparks, bis mich das schlechte Gewissen drängt, weiterzumachen.

In der nächsten Pause dann die rettende Idee! Aufgeregt öffne ich ein neues Fenster – warum bin ich nicht schon früher draufgekommen – und tippe in die Suchleiste: „exotische Inseln“. 500.000 Ergebnisse, atemberaubend. Kristallklares Wasser, weiße Sandstrände mit Palmen und kleine Strohhütten auf Stelzen. Begeistert öffne ich einige der Fotos, eine Aufnahme gefällt mir besonders: ein Tal, dessen Rand von Geländestufen geprägt ist und über das vereinzelt kleine Häuser und Palmen verstreut sind. Es sieht unaufdringlicher und vertrauter aus als die anderen, weniger wie ein Plakat einer Fluggesellschaft. Ich merke mir den Namen, lasse die tabs vorerst offen und arbeite weiter.

Im Laufe des Tages schränke ich die Suche immer weiter ein: exotische Insel: ja; aber nicht zu weit weg, damit der Flug nicht zu anstrengend wäre und die Umwelt nicht zu sehr belasten würde (wohl eine schlechte Ausrede, um sich nicht zu sehr in unbekanntes Terrain vorzuwagen). Am späteren Nachmittag, beruflich habe ich an diesem Tag kaum etwas geleistet, seufze ich schließlich erleichtert auf, denn ich habe eine passende Inselgruppe gefunden: weit genug südlich, aber noch im Schengenraum, touristisch gut erschlossen aber mit ruhigen Orten, nicht zu teuer aber mit gewissen Standards. Niemand kann jetzt von mir verlangen, weiter irgendwelche Tabellen und Dokumente anzustarren oder im Idealfall sogar zu bearbeiten, und ich verbringe die letzte halbe Stunde damit, mich über mein Traumziel zu informieren. Satellitenaufnahmen zeigen Calima, ein mehrere Tage andauerndes Wetterphänomen, bei dem ein Sandsturm von der afrikanischen Küste aus wie ein diffuser, an den Rändern ausfransender riesiger Arm nach den Inseln greift, so dass dort alles, was nur wenige Meter entfernt ist, hinter einem gelblichen Schleier verschwindet. Ein Blick aus der Stratosphäre zeigt Wolkenbänder, die sich in den Gipfeln der Berge verfangen und wie Wattebäusche hängenbleiben. Über die Vegetation lerne ich, dass eine bestimmte Kiefernart sich an die vulkanische Aktivität angepasst hat und nach einem Waldbrand wieder aus dem alten Stamm austreibt. Fotos von einem Waldbrand erwecken den Eindruck, als ob die Insel sich ihrer vulkanischen Vergangenheit entsonnen und beschlossen hätte, wieder Feuer zu spucken: von ihrer Spitze, die ein gleißendes, orange-gelbliches Band säumt, steigt eine kilometerlange Rauchwolke auf.

In der Wohnung angekommen werfe ich mein Zeug auf einen Sessel und starte sofort den Computer. Es gilt, sich für ein Eiland zu entscheiden, immerhin kann man nicht wie ein Delphin zwischen ihnen hin- und herschwimmen. Satellitenbilder lassen mich über Städte und Küstenlinienfliegen und in online-Reiseführern und finde ich heraus, dass einige Inseln recht trocken, andere ziemlich flach und wieder andere überlaufen sind. Eine gefällt mir schließlich, und es ist tatsächlich die, deren Namen ich mir vom Foto bereits gemerkt habe: ein Paradies, wie für mich geschaffen! Klein, kreisrund, mit verhältnismäßig hohen Gebirgszügen im Zentrum und faszinierenden Felsformationen am Meer: Lava, zu sechseckigen Säulen erstarrt, die nun an unzugänglichen Stellen dutzende Meter hoch ins tosende Wasser abfallen.

Rein hypothetisch beginne ich, Flüge zu suchen, während im Backrohr eine Tiefkühlpizza auftaut. Eigentlich nicht teuer, denke ich und gieße ein Glas Wein ein. Ob es dort wohl schöne Apartments gibt? In welche Gegend sollte man überhaupt ziehen? Die Ortschaft, in die in den 60ern und 70ern die Aussteiger hingezogen sind, scheint inzwischen touristisch gut vermarktet worden zu sein: in einem Reiseforum finde ich einen Beitrag von Dirk und Ute, die davor warnen an die Südküste zu reisen, da dort zu viele Deutsche seien. Aber es gibt noch ein halbes Dutzend anderer Dörfer, die ruhiger wirken. Über Urlaubsfotos von fremden Menschen sammle ich Eindrücke und entschließe mich dann für ein Dorf im Norden, in dem es nur wenige Restaurants und Unterkünfte gibt und das als guter Startpunkt für Wanderungen gepriesen wird. Mehrere Angebote mit deutschen Namen als Kontaktdaten zwingen mich mir auszumalen, dass es sich um Hippienachkommen oder um Menschen handelt, die von der schlechten wirtschaftlichen Lage in den letzten Jahren profitiert haben und jetzt die Inseln von Mitteleuropa aus zum zweiten Mal kolonialisieren, auf eine sterile, effiziente Art: indem sie sich Immobilien kaufen. Schließlich stoße ich auf eine nette Anlage mit vier Apartments und sehe mir die Fotos an: herrlich! Terracottafliesen, weiße Wände, dunkles Holz und von einer großen Terrasse aus kann man vorbei an einer hohen Dattelpalme über die Bananenplantagen hinweg durch das Tal hinunter aufs Meer blicken. Mhhm, Bananenplantagen! „Bananenplantagen“, flüstere ich. Ich mag das Wort und glaube, es noch nie bewusst ausgesprochen zu haben. Mit geschlossenen Augen genieße ich die Vorstellung, am Abend auf der Terrasse zu sitzen, im beruhigenden Froschquaken und Grillenzirpen, während der Wind den Geruch von Gegrilltem heranträgt. Die Pizza! Schnell springe ich auf und renne zum Backrohr, reiße es auf und werfe die Margherita mit hastigen Bewegungen vorsichtig zupfend auf einen Teller – glücklicherweise ist es noch nicht zu spät und ich muss nur ein wenig vom schwarz gewordenen Rand abkratzen.

Die Pizzastücke gedankenverloren in mich hineinstopfend und mit Wein hinunterspülend suche ich weiter und plane meine Anreise: mit dem Flugzeug auf die Nachbarinsel, dann mit einer Fähre weiter (ein norwegischer Name für einen futuristischen und schnellen Trimaran, der aber besonders gefährlich für Delphine ist, weil sie zwischen den Rümpfen in den Sog der Schrauben gelangen). Ich stelle mir vor: die Ankunft spätabends, im letzten Sonnenlicht zum Busbahnhof, dann in der Dämmerung über die Berge in mein Dorf. Eine Busfahrt, die mir Respekt vor der Natur und dem Selbstvertrauen der Chauffeurin einflößen könnte, denn aus der erhöhten Sitzposition im Bus wirken die steilen Felsabstürze neben der schmalen Straße noch beängstigender und die hölzernen Leitplanken noch lächerlicher – ob sie vor einer Kurve auch einfach hupt, um möglichen Gegenverkehr darauf aufmerksam zu machen, dass uneinsichtige Kurven geschnitten werden?

Ich durchwandere das Dorf mit streetview und komme vorbei an einfachen, bunten Häuschen und vereinzelt auch größeren, herrschaftlichen Palästen mit hellblauen oder rosaroten Fassaden und weißen, verschnörkelten Balkongeländern und Fenstersimsen wie aus Zuckerguss. Ob hier wohl eine viktorianische Barbie über die Plantagen geherrscht hat? Die Häuser scheinen grüppchenweise an die Bergflanke gepresst zu sein, in kleinen Siedlungen stehen sie geduckt am Hang, um genug Platz für die in Terrassen angelegten und die Talsohle bedeckenden Bananenplantagen (schon wieder!) zu lassen: der fruchtbare Streifen in der Mitte des Tales, der von einem kleinen Bach bewässert wird, war so gut wie möglich genutzt worden, die Siedlungen selbst mussten zurücktreten, bekommen so aber einen besonders zurückhaltenden Charme. Nach einiger Zeit endet mein Weg an einem verpixelten Strauch und ich muss meinen Rundgang abbrechen.

„Mein Dorf ist schön, es war die richtige Wahl!“ Zufrieden lehne ich mich zurück und merke die Wirkung des Weins. Zeit, schlafen zu gehen, denn morgen muss ich wieder arbeiten. Beim Zähneputzen starte ich noch eine Bildersuche am Handy und kombiniere den Inselnamen mit „Palmen“, „Strand“ oder „Terrassen“. Besonders die Aufnahmen der in stufenförmigen Terrassen organisierten Felder gefallen mir – eine anscheinend prägende Form, die sich auch in der (mehr oder weniger) unberührten Natur wieder findet: mehrere Meter hohe Stufen in den Bergen, die durch die Erosion der verschieden alten und somit auch unterschiedlich kompakten Gesteinsschichten entstehen. Steile Klippen am Rand des Tales, an denen man den Verlauf der Zeit anhand der Farben in den Erdsorten unterscheiden kann; dazwischen an Hänge geschmiegte, weiß getünchte, flache Häuser, die wie unwichtiges Beiwerk oberhalb der Felder stehen; kurvige Straßen, die nach oben führen und immer wieder einen weiten Blick über den Wald und bei gutem Wetter sogar auf die Nachbarinsel mit ihrem mächtigen, schneebedeckten Vulkan ermöglichen. Und immer wieder diese künstlichen Terrassen, die wie eine Fortsetzung der Stufen im Berg wirken, wie eine Weiterführung der verschieden festen Sedimentschichten, die die Hänge wie südamerikanische Pyramiden erscheinen lassen, bewachsen von tropischen Pflanzen und ein Geheimnis bewahrend, für das die Menschen noch nicht bereit sind. Ein Abstieg von schroffen, kargen Gipfeln in eines dieser fruchtbaren Täler würde mich wohl erinnern an dieses Buch, das ich einmal gelesen habe, über eine Wanderung durch den Karst, umgedrehte Pyramiden,… Auf der Suche nach dem Titel schlafe ich ein.

Am nächsten Morgen: wieder Nebel. Ich quäle mich mit dumpfem Fernweh durch den Arbeitstag, indem ich immer wieder heimlich Urlaubsfotos von anderen Menschen im Internet suche. Am späten Vormittag dann die rettende Idee: die Kombination aus „Lost places“ und dem Inselnamen bringt Suchergebnisse, die mich die gesamte Mittagspause durch fesseln: leerstehende Fischfabriken, ehemals bewohnte Höhlen, verlassene Steinhütten mit eingefallenen Dächern im Gebirge und in meinem Dorf: die Türme. 5 mehrere Stockwerke hohe Betontürme waren in der Bucht errichtet worden, in die mein Tal mündet – Tal oder „barranco“, denke ich lächelnd wie ein Eingeweihter. Eine Industrieanlage mit vom Wasser angenagten Säulen in einer Bucht, in der das Schwimmen wegen der starken Strömung verboten ist. Aufgeregt wie ein Kind, das ein Geschenk auspackt, verfolge ich die Spur. Schnell ist herausgefunden, dass es sich um die ehemalige Verladestation handelt, die Anfang des 20. Jahrhunderts errichtet worden ist, als der Abtransport der Ernte über die Berge noch nicht möglich war. Ich vergrößere die Fotos eines gischtumtosten Krans und höre beinahe das bedrohliche Grollen der gefährlichen Brandung, die menschenkopfgroße Steine über den schwarzen Kiesstrand rollt, so dass jede an Land spülende Welle die Vorstellung eines langsam anschwellenden Donners eines fernen Gewitters hervorruft. Vor dieser beängstigenden Geräuschkulisse wurden die Bananenbündel mit Hilfe des rostigen, auf dem massiven Betonturm montierten Krans verladen, dessen Überreste sich noch auf gemalten Postkartenmotiven finden. Romantisches Industriezeitalter in Aquarell! Danach wurde die wertvolle Fracht von Ruderbooten mit 8-10 Mann Besatzung, wie ich lese, zu den weiter draußen wartenden, im schweren Wellengang schwankenden Dampfern gebracht. Eine anstrengende, gefährliche Arbeit, bei der viele Menschen ihr Leben ließen, von den mächtigen, gnadenlosen Wellen gegen die Felsen geschleudert oder im Sog ertrunken, nur um den grünlich-gelben Früchten einen Weg von den zwischen kargen Bergrücken gediegen gelegenen, terrassenförmigen Bananenplantagen(!) in die Paläste des Königreichs zu bereiten. Zwischen 1907 und 1909 wurde der erste Turm mit dem Kran errichtet, in einer Zeit also, in der die Wirtschaft auf der Insel aufgrund des florierenden Exports von Obst und Gemüse boomte, und ich male mir aus, wie der erste Plattenspieler im Dorf für lange Tanznächte in der einzigen Bar sorgte, die plötzlich von Matrosen und Abenteurern frequentiert wird, Fremden, die den Einheimischen die Welt näherbringen. Die Hirten, die einmal im Monat von den Hochebenen herunterkommen, sind überrascht, wie schnell sich die Welt verändert hat – ich sehe sie beinahe vor mir, wie sie vorsichtig in einer Ecke der Bar sitzen, an ihrem Rum nippen und den Tanzenden zusehen. Schwarz-weiß Fotos regen meine Fantasie weiter an: meterhohe Wellen, die am Turm brechen, Aufnahmen von Verladevorgängen in anderen Buchten, eine junge Frau in eleganter Kleidung vor dem Kran. „El Pescante“ - „der Kutschbock“, lerne ich mit Hilfe eines online-Wörterbuchs. Ob das die richtige Übersetzung ist? Als ein Kollege über die Trennwand schaut vergesse ich, ein Alibi-Fenster am Computer zu öffnen und kann seine Frage nicht sofort beantworten, so weit weg war ich: staunend vor einer Hangrutschung im Vulkangestein, nicht konzentriert im klimatisierten Büro.

Einige Zeit kann ich mich mit meiner Arbeit beschäftigen, beinahe eine ganze Stunde. Aber eine Frage lässt mir keine Ruhe: Wofür waren die anderen 4 Türme, die wie die Pfeiler einer ins tosende Meer hinausführenden Brücke wirken? In der Mittagspause begnüge ich mich mit einer Packung Erdnüsse und einem Schokoriegel aus dem Automaten und recherchiere weiter: sie wurden nach dem 2. Weltkrieg errichtet, um das Verladen der Ware effizienter zu machen und gleichzeitig das natürliche Becken in einen Hafen umzugestalten. Allerdings scheinen sie im Gegensatz zu ähnlichen Konstruktionen in anderen Dörfern nie benutzt worden zu sein, und ich stelle mir vor, warum: vielleicht eine Fehlberechnung, mehrere Schiffe zerbarsten, bis der Ingenieur zerknirscht eingestehen musste, dass er die Kraft des Meeres unterschätzt hatte. Oder das Auftreten einer Krankheit hatte zu großen Ernteausfällen geführt, weshalb der Export für mehrere Saisonen einbrach, und bis sich die Felder erholt hatten, waren die Preise für Kohle derart gesunken und die Löhne auf den Inseln so stark gestiegen, dass der Import aus Südamerika billiger kam. Oder eine andere Siedlung war erfolgreich gewesen mit dem Bau eines sicheren Hafens (ein unausgesprochener Konkurrenzkampf), weshalb die Ernte von diesem Zeitpunkt an in buckligen Lastwägen über die Berge dorthin gebracht wurde. Eine Pionierleistung wagemutiger Lenker, denn nicht selten kam eines dieser Ungetüme vom schmalen Schotterwegen ab, ein rauchender Haufen Metall in einem Berg zerquetschter Bananen entsteht in meinem Kopf, aus einer kurzen Unachtsamkeit heraus oder wegen schlechter Bremsen dutzende Meter in eine Schlucht gestürzt (bereits bei der letzten Fahrt hatten sie doch schon gestunken, aber der Geruch war vom Dampf überdeckt worden, der aus dem überhitzen Kühler nach hinten zog über die rund geschwungene Motorhaube und zwischen den knubbeligen Fühlern links und rechts derselben, die zur Einschätzung der Breite des Gefährts dienten). Ein Begräbnis mit verbitterter Witwe, der vom Plantagenbesitzer pathetisch die Hand geschüttelt wird, weinenden Kindern und heiterer spanischer Begräbnismusik.

An diesem Abend habe ich nicht nur Wein, um meine Phantasie anzuregen. Nach der Arbeit bin ich durch mehrere Geschäfte gelaufen, um alles Nötige zu finden, und jetzt hacke ich Zwiebel, Tomaten, Knoblauch und eine Gurke klein, mische eine Marinade aus Zitronensaft, Öl und Kräutern und wage mich schließlich an den wichtigsten Bestandteil des Abendessens: die Papaya. Vorsichtig schäle ich die leicht säuerlich, fast wie Erbrochenes riechende aber delikat und süß schmeckende Frucht, so dass mir der klebrige Saft über die Hände bis an die Ellbogen rinnt, schneide sie in mundgerechte Würfel und mische sie unter die anderen Zutaten. Weitere Urlaubsgerichte für diese Woche, die ich nach Vorschlägen im Internet zubereiten will: mit viel Thymian gewürzte Tomatenstücke, die in grünem Zwiebel angebraten und dann mit Ziegenkäse überbacken werden; In einer Panade aus Ei, Mehl, Gewürzen und Palmenhonig gebackene Melanzanischeiben und Oktopussalat mit Paprika. Nachdem die restlichen Zutaten im Kühlschrank verstaut sind, nehme ich die Salatschüssel und gehe sofort wieder an den Computer, höre angeblich traditionelle Musik von meiner Insel und suche Wanderungen. Ich finde einige ausführlich beschriebene und schön bebilderte Touren, informiere mich über die Höhenunterschiede und recherchiere die verschiedenen Vegetationsstufen: ein Weg führt etwa von meinem mit Palmen und Kakteen bewachsenen Tal entlang eines hohen Wasserfalls eine steile Wand in Serpentinen hinauf auf über 1000 Meter, so dass man innerhalb kurzer Zeit Einblick in die verschiedenen Schichten von Flora und Fauna bekommt, bis man schließlich, an der Oberkante angelangt, in einen Zedern- und noch ein wenig höher in einen oft nebelverhangenen Lorbeerwald kommt. Es ist der größte seiner Art, ein Naturschutzgebiet, das ich in meiner Fantasie durchwandere, auf schmalen, mystischen Wegen zwischen über und über mit Moos bewachsenen Bäumen und riesigen Farnen; ein einzigartiger Urwald, der sämtliche Geräusche schluckt, so dass man das eigene Atmen hört, höchstens von den Rufen der Vögel begleitet. Ich lese, dass es auf der Insel kaum regnet und dass sich die Vegetation die nötige Feuchtigkeit aus dem Nebel holt, der sich beinahe täglich in den höher gelegenen Wäldern verfängt. Aber dieser Nebel würde mich nicht stören, oder? Ich würde ihn vielmehr andächtig durchschreiten und mir vorstellen, wie sich die Menschen früher Geschichten von Fabelwesen und Zauberfrauen erzählt und dabei gefürchtet hätten.

Eine andere Wanderung, die mich anspricht: eine kurze, aber kräfteraubende, steile Route auf einen Tafelberg, der das imposanteste der zahlreichen Relikte aus der vulkanischen Vergangenheit der Insel ist. Ein heiliger Berg der Ureinwohner, die von den Berbern abstammten und die Insel lange bewohnten, bevor sie von Spanien aus erobert worden war. Für sie war der Berg, der heute „Fortaleza“ - die Festung - heißt, eine wichtige Opferstätte, um mit den Göttern in Kontakt zu treten. Der Tourismusverband der Insel hat anhand der archäologischen Funde große Steine auf der überraschend ebenen Fläche gemäß dem Bild aufgebaut, das die Forschung uns entwirft.

Wenig blieb von den Menschen, die vor der Inbesitznahme durch Europa auf der Insel lebten: ein Wort für rohen Mehlbrei, „Gofio“, den die Hirten bei ihren langen, einsamen Wanderungen mit Wasser oder Ziegenmilch verknetet und mit Palmenhonig oder Gewürzen verfeinert aßen sowie der Name eines Berges, der mich, obwohl es natürlich eine andere Sprache ist, an die Kulturen in Südamerika erinnert – alles klingt fremd und aufregend! Es scheint so, als ob nichts Greifbares über die ersten Menschen hier zu finden wäre, nichts Nachweisbares. Ganz anders verhält es sich mit den Eroberern, die, wie ich lese, nach und nach die gesamte Inselgruppe unterwarfen. Zu ihnen gibt es ausführliche Informationen und schnell habe ich ein paar Geschichten gefunden: Rebellionen, die in brutalen Niederschlagungen endeten; Versklavung, Zwangsumsiedlung und sehnsüchtige Blicke über das Meer; Machthaber, die sich mit ihrer Gefolgschaft in einen Festungsturm zurückziehen mussten und erst durch herbeigesandte Truppen einer Nachbarinsel wieder die Oberhand gegen die Aufständischen gewannen; scheinheilige Versöhnungsangebote, der Weg durch das Gnadenportal aber ein gemeiner Hinterhalt, eine tödliche Falle. Und Christopher Kolumbus, von dem erzählt wird, dass er seine Schiffe mehrmals den Hafen ansteuern ließ, um einer Gräfin seine Zuneigung zu zeigen und der den neu entdeckten Kontinent mit Wasser aus einem Brunnen von hier getauft hatte.

Schultern und Rücken beginnen von der verkrampften Haltung vor dem Bildschirm zu schmerzen, und ich lehne mich zurück, schließe die Lider und massiere sanft die Augäpfel mit den Handballen. Eine aufregende Zeit, in der man Eindrücke noch selbst sammelte und nicht aus zweiter Hand in einer illusorischen Welt suchte! Romantische Piratenphantasien mit Segelschiffen, die in einsamen Buchten ankern, versteckte Höhlen voller Goldschätze… Ich stelle mir vor: ein junger Mann aus einem ruhigen Alpental, abgeschieden aufgewachsen, ein Xaver, oder noch besser, ein Alois, ein Friedrich, nein: ein Ferdinand! Aus irgendeinem Grund kommt er auf die Insel - zu einer Zeit, in der Humboldt gerade auf der Nachbarinsel war oder ein bisschen später, als Darwin auf seiner Reise nach Südamerika und weiter durch den Pazifik wegen einer über das Schiff verhängten Quarantäne nicht wie erhofft an Land gehen konnte, um die Beschreibungen Humboldts in Realität nachzuvollziehen, sondern sich mit der Erforschung von Plankton zufrieden geben musste; da gab es doch auch ein Buch, in dem das vorkommt, ein trockener, humorloser Abenteurer und irgendetwas mit einem Baum? Mein Ferdinand wehrt sich anfangs noch dagegen, dass ihn alle Hernando rufen, wenn das der Vater wüsste! Aber schön erscheinen ihm die Menschen hier, und das könnte sogar der Grund sein, warum er sein Heimatdorf verlassen musste: um der Familie mit seinen Schweinereien keine Schande zu machen. Oder könnten es doch berufliche Gründe sein, die meine Figur auf die Insel bringen, ein wichtiger Handelsbeamter der Monarchie, dessen Auftrag es nicht nur ist, die diplomatischen Beziehungen zu den Nachbarstaaten zu verbessern, sondern auch gleichzeitig die Entwicklung in den fremden Kolonien im Auge zu behalten? Ein Spion also, der einerseits den Handel mit der fremden Kolonie vorantreiben und andererseits gegebenenfalls über Unruhen oder technische Neuerungen berichten sollte. Ein richtiger Pedant könnte er sein, charmant und weltgewandt auf Soiréen zwar, wenn es denn nötig wäre; aber penibel und strikt, ohne Verständnis für die Fehlbarkeit der Menschen, ihre Emotionen und Ängste. Ginge es nach ihm, müsste alles dem Wohl des Kaiserhauses untergeordnet werden, einem höheren Sinn, seiner Idee von logischer Struktur. Und wie wäre es erst, wenn er auf die Insel käme, wo die Menschen zwar in Arbeitslagern ausgebeutet würden, aber in seinen Augen trotzdem so unendlich faul wären, dass sie augenblicklich nur mehr im halben Tempo arbeiteten, sobald man sich umdrehte, und alle halbnackt, mit ihrer andauernden Fröhlichkeit und ständig dieses Tanzen! Das wäre das Schlimmste für ihn, etwas, worüber er die Nase rümpfen würde, abschätzig, aber ohne auch nur ein Kommentar darüber zu verlieren. In seinen Briefen (kaum private, die meisten ans Ministerium) würde er es aber erwähnen, würde er zwischen den Zeilen verhalten klagen über die Umstände, in denen er leben musste, das geringe Kulturverständnis und die Liederlichkeit der Leute, mit der sie einen immer in Versuchung führen wollten. Und das Klima erst, diese ständige, drückende Schwüle, der Wind! Und dann die Sprache! In der Hofbibliothek hätte er zwar etwas Spanisch gelernt, das er bereits auf der Schiffsreise anwenden wollte: schnell und effektiv eingeprägte Sätze, wie Formeln, deutsch betonte Vokabeln und einwandfreie Grammatik. Aber dann sprechen alle anders, in einem Dialekt, den er kaum versteht (anders als heute, wo vermutlich einige sogar Deutsch sprechen). Das mit der Sprache wäre ihm vielleicht schon am Schiff aufgefallen, als er verwirrt feststellen hätte müssen, dass er die Inselnamen nicht verstand, und sich dann zusammenreimte, dass alle Inseln des Archipels mehrere Namen hatten und niemand von den Seeleuten jene verwendete, die er aus den Atlanten der kaiserlichen Hofbibliothek kannte. Große Verwirrung an der Reling also, ein skurriles, von Windböen zerrissenes Gespräch mit einem verschrobenen 2. Offizier, dem er verständnislos nachschauen würde, nachdem dieser ihn aufgeklärt hätte und wieder in die Kajüte gegangen wäre.

Zurück in der Realität oder dem, was ich daraus mache, bekomme ich nach einigen Links, über die ich mich weiterhangle im Informationsdschungel, schließlich doch zumindest einen groben Eindruck des Lebens auf den Inseln vor der Kolonisation durch Europa: ich lese von den „Guanchen“, die sich auf ihre heiligen Berge flüchteten, bevor ihre Kultur von Eroberern zerstört worden war, und ich finde Fotos von Höhlen und Schriftzeichen im Stein: Spiralen und Gitter, über deren Bedeutung nur gemutmaßt wird. In Stämmen organisiert lebten sie bis zu ihrer Missionierung steinzeitlich, wie es heißt, als Jäger und Sammler ohne das Wissen über die Herstellung von Eisen. Ich sehe mir die Bilder an und überfliege den Artikel, die Beschreibung könnte auf alle frühzeitlichen Kulturen zutreffen: Viehwirtschaft, Jagd, Töpferei, Fischfang, Naturgötter und Schamanen,…

Aber dann: „el silbo“. Begeistert lese ich von einer Pfeifsprache der alten Kultur, die nun auch wieder der jungen Generation in der Schule beigebracht wird. Da pfeifen die Guanchen: die Sprache wurde früher verwendet, um sich über die tiefen Schluchten und Täler hinweg zu verständigen, und ein Beitrag zeigt zwei „Silbaderos“, die sich mit dem Mittelfinger im Mund zwei Vokale und vier Konsonanten zu pfeifen und sich damit über Ziegenherden unterhalten. Weil ich nirgends eine Anleitung finden kann, mit deren Hilfe ich diese faszinierende Kommunikationsart lernen könnte, bin ich kurz versucht, dem Museum vor Ort ein e-mail zu schreiben, aber: betrunkene Onlinekorrespondenz sollte wohl besser vermieden werden.

Schwarzer Sand also, stelle ich mir vor, als ich mich wieder beruhigt habe, wie wäre das? Ich finde Bilder vom Strand, mit kleinen Steintürmchen und kniehohen Mauern, die vor dem starken Wind schützen, der den feinen Sand in Augen und Ohren weht, und stelle mir die am Kamm glänzende weiße Gischt vor, bevor die Welle, an manchen Stellen vom schwarzen Sand dunkel gefärbt, schließlich tosend bricht.

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