Es sei ja damals, sagt er und richtet sich mühsam ächzend auf, alles ganz anders gewesen als heute, man könne es sich ja gar nicht mehr vorstellen, aber er erinnere sich noch ganz genau, meint er und lehnt sich an die dunkelgrün glänzenden Kacheln des Ofens. Aber das sei ja auch normal, weil die Veränderungen meistens so schleichend kämen, dass man es kaum bemerke, und wenn es dann einmal doch laut klescht, wenn es einmal Schlag auf Schlag geht, dann rede niemand darüber, dann hänge das zwar alles in der Luft wie hier in der Stube der Rauch, aber darüber sprechen, naja, das wollten dann auch wieder die Wenigsten. Und denen dann zuzuhören traue sich letztendlich auch niemand.

Bist du deppert, er habe einen Durscht wie ein alter Tanzbär, sagt er, denn hier auf der Ofenbank sei es gemütlich warm, gerade richtig, aber die Zeit sei auch schnell übersehen; eine feste Burg sei dieser Diwan, aber die Ofenwärme treibe den Schweiß auf die Stirn und dieser den Trinker zur Schank, und er beißt ab von einem Sasakabrot, das er plötzlich in der Hand hat, als wäre es Teil eines Zaubertricks – wo er das wohl versteckt gehabt hat. Die Zwiebelringe spart er sich für den letzten Bissen und schmatzend zutzelt er das Fett von den schmierigen Fingern, bevor er abschließend einen Schluck aus der Bierflasche nimmt. Zuhause sei es halt am feinsten, die wilden Zeiten seien vorbei, ach wenn er daran zurückdenke, grimmig und unwirtlich sei das Leben gewesen, ja sogar unwirklich irgendwie, schwer fassbar; niemand hätte halt gewusst: wem vertrauen und was glauben. Da sei es ihm jetzt schon lieber, er habe schon längst alle Widerstände aufgegeben, eine Jause und ein Bier, manchmal vielleicht ein Schnaps oder wenn es gerade passt ein Most, und warme Füße – das seien Werte, die er verteidigen wolle, und spiele dann noch wer auf der Quetschn fidel auf oder besinnlich auf der Klampfn, dann fühle er sich daheim, zuhause in den alten Hadern, und das sei eine gemütliche Zufriedenheit, die er draußen nicht mehr finde, denn da kenne sich ja niemand mehr aus wer oben und unten und was links und rechts und wo hinten und vorne sei.

„Ich sag 40 – da sagst nichts mehr!“ durchbricht ein Kartenspieler vom Nebentisch das stetige Grummeln und Räuspern in der Stube und bekommt ein „Mit voller Hose ist‘s leicht stinken!“ als Antwort, und ein „So traust dich spielen unterm Herrgottswinkel, na Servas Kaiser!“ obendrauf. Rundum werden die Doppeldeutschen auf das verstaubte Spitzendeckerl gedroschen, auf dem die Bummerlzählmaschine steht, denn hier geht es hochprofessionell zu, und von oben beobachten die ausgestopften Murmeltiere und Fasane gespannt das Geschehen und auch die weißen Schädel der Böcke scheinen Interesse zu haben, denn die Krickerln mit ihren Augen aus Spaxschraubenköpfen rühren sich nicht. Sein Blick fällt auf den ergrauten Wurzelstock, der sich geschmückt mit getrockneten Disteln und Blumen über eine Raumecke spannt und von dem eine alte Lampe hängt, das Glas milchig und gesprungen. Das sei damals ja auch nicht immer leicht gewesen, fängt er nach längerem Überlegen wieder an, und starrt dabei auf den vergilbten Stor. Als er angefangen habe: Kein Thema, da habe es immer genug Petroleum gegeben, piccobello, aber später habe es dann schon ganz anders ausgesehen, und man habe rationieren müssen, weil tagsüber spielst du ja nicht, da habe ja niemand Zeit, aber abends wollen die Leute unterhalten werden, da kommen sie dann zum Licht wie die Motten. Es habe sogar Vorstellungen mit Kienspänen gegeben, die links und rechts geflackert hätten. Er könne sich noch daran erinnern, dass er einmal im Zug von Triest nach Madrid einen Mann beobachtet hatte, wie er immer wieder vorsichtig mit dem Taschenfeitl auf die Schnittfläche seines Speckstückes geklopft hatte, bevor er eine hauchdünne Scheibe heruntergeschnitten hatte, und dass er erst bei genauem Hinsehen erkannt habe, dass der damit die Maden verscheucht hatte, die sich immer für ein paar Sekunden in das ranzige Innere zurückgezogen hätten. Ein Stückchen habe er dann aber trotzdem gerne gegessen, ja verschlungen, als der andere seinen hungrigen Blick bemerkt und ihm wortlos etwas angeboten habe – sogar ein Stückchen Schwarte abknabbern und auslutschen habe der ihn lassen. Nie habe es ihn gestört, steinhartes Brot im wässrigen Malzkaffee aufzuweichen, aber wenn die Figuren nichts gleichgeschaut hätten, das habe er nicht verkraftet, da habe er dann nach der Vorstellung Stoffreste und Farben gebettelt, und einmal von einem toten Soldaten einen Ärmel und die Stiefel für sich selbst genommen.

Das erste Mal, das wisse er noch ganz genau, das wirklich allererste Mal habe er so etwas bei einem Nachbarskind zuhause gesehen. Vom Herrn Doktor die Kinder hätten eines gehabt, so ein Papiertheater, und bei einem Geburtstagsfest seien sie alle staunend dagehockt in ihrem Feiertagsgewand und mit offenen Mündern. Schlatzkugeln und Kastlhupfn, das seien damals seine Prioritäten gewesen, und wenn ihm jemand gesagt hätte, wie weit ihn diese kleinen Puppen herumbringen würden, hätte er es wohl nicht geglaubt. Aber irgendetwas musste es trotzdem sofort ausgelöst haben in ihm, einen Stein ins Rollen gebracht oder einen Funken überspringen lassen, denn in den folgenden Jugendjahren habe es ihn nicht mehr losgelassen: ein Theater im Kleinen, das Erwachsene und Kinder gleichsam mit einem Stück unterhält, alle zusammenführt und die Augen leuchten lässt, das herumreist und der Welt die Welt näher bringt. Mit dem Handrücken befühlt er den Kachelofen, lauwarm ist er wohl immer noch, murmelt er, und erzählt weiter: nach der Grundschule habe er in einer Tischlerei angefangen, und so sei er die ersten Male weggekommen aus dem Dorf, zu Aufträgen in der näheren Umgebung, und das habe ihm schon sehr gefallen, aber auch heimgekommen sei er immer wieder gerne – besonders wenn im Herbst das Kartoffelkraut auf den Feldern verheizt wurde und die Tagelöhner ein paar Knollen in der rauchenden Glut rösteten, dieser Geruch und das Gefühl, da werde er heute noch zum Kind, Kohl und Kartoffeln, da laufe ihm immer noch das Wasser im Mund zusammen. Und das Knistern der frischen Kukuruzfedern in der Matratze, das sei etwas gewesen!

In der Werkstatt habe er begonnen, abends nach der Arbeit heimlich kleine Figuren zu schnitzen, und ruckzuck mirnichtsdirnichts habe er ein ganzes Ensemble beisammen gehabt, das er hinter der Werkbank verschwinden habe lassen: Mann : Frau, Kind : Greis, Engel : Teufel,… Ein schwer bestimmbares Gefühl sei in ihm damals gewachsen, eine heimliche Zuneigung, eine richtiggehende Abhängigkeit, und mit jedem verstohlenen Herauskramen, bei jedem neuerlichen Aufstellen wären die Puppen lebendiger geworden - vor allem nachdem er sie bemalt habe. So habe es dann auch nicht lange gedauert, bis er einmal in die Stadt gefahren wäre, um vor dem Theater herumzulungern, vor dem mit den echten Menschen wohlgemerkt. Aber hineingehen habe er sich noch nicht getraut. Ein anderes Mal habe er dann auf einem kleinen Platz eine Gauklertruppe gesehen, die allerlei Tricks aufführten, musizierten und tanzten. Ein Teil der Aufführung sei eine etwa beinlange Puppe gewesen, die mit Schnüren vom Dach des Wagens aus bedient worden sei, eine Puppe mit stechenden Augen, deren Mund sich auf und zu bewegte und die alle Anwesenden beschimpfte und sich darüber lustig machte, worüber sich die Menschen nicht lustig machen durften. Da habe er dann den Entschluss gefasst.

Die Worte müssen bewusst gesagt werden, gezielt und überlegt, denn haben sie einmal den Mund verlassen gibt es kein Zurück mehr, da hilft kein Auf-die-Zunge-beißen, sie werden selbstständig, soviel hatten die Leute gelernt: aufgepasst, was du sagst, denn man weiß nie!

Angefangen habe es klein. An den Sonntagen habe er zuerst allein, später mit einem Trommler, der auch auf einer kleinen Flöte spielte, Vorstellungen in den Gasthäusern der Umgebung gegeben, belächelt und verspottet manchmal, aber oft auch bejubelt und unter Beifall der Betrunkenen.

Und dann habe es nicht lange gedauert, meint er, und kratzt sich nachdenklich am Hinterkopf, im Nachhinein könne er aber auch nicht mehr genau sagen, wie eines zum anderen gekommen sei, aber bald hätten sie in einem echten Theater gespielt, und dann in einem größeren und schließlich im größten der Stadt, mit Parkett und Galerie und Balkonen und mit einem Steg oberhalb der Bühne, verdeckt von schwarzem Stoff, auf dem die Strippenzieher standen und hochkonzentriert die filigranen Schnüre bedienten, die Schatten ihrer Körper von den Bühnenscheinwerfern an die Decke projiziert. Wenn du über die Holzstiege nach oben gekommen bist, warst du plötzlich in einer anderen Welt: verschwörerisches Grinsen, heimliches Tuscheln und ein Sprechverbot ab Vorstellungsbeginn. Und die Figuren, erzählt er, seien etwas ganz Anders gewesen als jene, mit denen er begonnen hatte: größer, verspielter und detaillierter, mit den ausgefallensten Funktionen, aufwendiger Kleidung und manchmal sogar verschiedenen Gesichtszügen, die je nach Stimmung getauscht werden konnten. Für die Schnitz- und Näharbeiten habe es eine kleine Schar an Bediensteten gegeben, so dass sich sein Gefühl für die Puppen auch ein bisschen geändert habe, ein größerer Abstand zwischen ihnen gewesen sei als bei den eigenhändig gebauten. Aber trotzdem: eine gewisse Abhängigkeit sei da schon noch gewesen, in beide Richtungen, sagt er und lacht kurz schnaubend.

Das sei eine große Zeit gewesen für das Puppentheater, mit reichen Gönnerinnen und einflussreichen Mäzenen, und was hätten sie nicht alles gespielt: den Doktor Faustus und den Don Quichotte, und das eine Stück mit den Soldaten, wie hat das geheißen? Ein eigenes kleines Orchester habe es gegeben und Sekt nach jeder Vorstellung. Auf einem Erinerungsfoto: alles in Braun- und Gelbtönen, die Haare mit Pomade an die Kopfhaut geklatscht oder elegant hochgesteckt, hier ein Fuß lässig auf einem Stuhl aufgestützt und da die Rüschen des Kleides penibel ausgerichtet.

Auf Europatournee seien sie sogar gefahren, mehrere Monate lang, die gesamte Truppe. Wäre es nach ihm gegangen, es hätte für immer so weiter gehen können, aber irgendetwas hat natürlich kommen müssen. Sie seien gerade in Paris gewesen, ausverkaufte Vorstellungen und ausgelassene Abende, als sie es in der Zeitung gelesen und die Fotos gesehen hätten. Und wegen der Kriegserklärung hätten sie dann auch rasch ausreisen müssen, die meisten wollten ja selbst schnell zurück. Zuhause sei alles anders gewesen. Euphorische und gleichzeitig gedrückte Stimmung, glänzende Augen und falsche Begeisterung bei den einen und scheue Angst bei manch anderen. Schweinteixel, elendiger, schreit ein Kartenspieler neben uns und haut auf den Tisch, so dass er kurz zusammenzuckt, bevor er weiterspricht: die vielen Paraden! Berittene Divisionen und schreitende Wimpelträger, die stolz durch Spaliere aus unzähligen Fahnenmasten marschierten, damit du weißt, wo du hingehörst; Und das Schreien und Jubeln in der Öffentlichkeit, immer wieder immer wieder! Aber auch vorsichtige Blicke, im Stiegenhaus oder im Innenhof, beim Wäschewaschen oder an der Wursttheke, über die Werkbank hinweg oder beim Schnaps nach dem Eisstockschießen – Immer dann, wenn die Leute wissen wollten, was die anderen wirklich dachten.

Für ihr Ensemble sei es dann auch ziemlich schnell gegangen: einige wenige seien d‘accord gewesen mit der Führung, manche andere hätten zu den sogenannten Unreinen, Unliebsamen gehört und wären mit einem Berufsverbot belegt worden und geflüchtet, andere hätten sich nach der Auflösung immer mehr ins Private zurückgezogen. Eigentlich hätten nur er, seine Frau und ein Musiker weitergemacht, und weil sie bald keine Lebensmöglichkeit in der aufgeheizten Stimmung der Hauptstadt mehr gesehen hätten, sei alles Nötige auf ein Maultier gepackt worden und sie seien mit einer kleinen Ausstattung wieder losgezogen: ein Boden und ein Deckel sowie eine große und zwei kleine Holzplatten als Bühnenbild, beidseitig bemalt für ein Innen und ein Außen. Ein Bäumchen und ein Kasten und ein Tisch und ein bisschen anderes Kleinzeugs aus der Buckelkraxn als Bühnendeko. Von Dorf zu Dorf, mit eigenen kleinen Stücken und einfachen Figurenkonstellationen: die Frau – der Mann – das Kind; Gut – Böse – König; Und ein Bär, der nur ein Brummen hinter der Bühne ist, aber vor dem sich alle fürchten, dazu ein paar Alltagswitze und erleichtertes Auflachen. Alles sei sehr bescheiden gewesen, aber wenn man den Fingern nur genug Freiraum gebe und sich richtig in die Figuren einfühle, dann könne man ihnen doch immer Anmut angedeihen und sie in fließenden Bewegungen tanzen lassen, egal wie spartanisch die Aufmachung sei.

Er wisse eigentlich gar nicht mehr genau, wie es dazu gekommen sei, aber er vermute, der Musiker habe damit angefangen, Flugblätter unter die Leute zu bringen, bei jeder Vorstellung vorsichtig Augenkontakt zu suchen und zu entscheiden, bei dem oder der passt es, oder: halt, aufgepasst, heute Abend lieber nicht! Mit der Wachsmatrize abgezogen, keine Ahnung, woher er die hatte: Ein Aufruf zur Wehrdienstverweigerung, auf der Rückseite das Bild eines Invaliden, mit Beschreibung: so ist der glorreiche Krieg wirklich; eine Verhunzung der Fahne; übersetzte Kolumnen aus einer spanischen Zeitung von einer Clownpuppe, berühmt für ihre spitzen Bemerkungen. Er habe es zwar bemerkt, weil nach den Vorstellungen hier einmal ein Blatt am Boden lag oder da einmal jemand an ihn herangetreten sei und ihm, der ja nichts gewusst habe, einen Zettel zurückgegeben habe – aber er habe nie etwas gesagt, denn eigentlich hätten sie es ja sogar gutgeheißen. Und das auf mysteriöse Weise in den Dörfern, die sie durchreisten, wenige Tage nach ihren Vorstellungen Telegrafenmasten oder Bahngleise gesprengt worden waren, hatte er gar nicht wahrgenommen, gar nicht bemerken wollen. Es war wie ein vorbeihuschender Schatten geblieben, aus den Augenwinkeln – aus dem Sinn. Und eines Morgens seien der Musiker, seine Tasche und das Maultier verschwunden gewesen. Danach hätten auch sie nicht mehr weitergemacht, und bald sei der Spuk sowieso vorbei gewesen und alle hätten wieder mit „‘ßGott“ gegrüßt, als ob niemals etwas passiert wäre. So viel anders sei es damals eigentlich gar nicht gewesen, behaupten manche ja inzwischen wieder, und er schaut hinauf zur Lampe und dann aus dem Fenster in die Dunkelheit, es sei halt immer so eine Sache mit dem Gefühl und den Veränderungen, und sowieso sei heutzutage alles verschlungen von einem fürchterlichen Nebel, von früh bis spät, da könne die Frau Doktor noch so gern erklären, das wäre der graue Star – er wüsste schon, was er wüsste, da könne ihm niemand etwas vormachen.

Ein Nebel sei es, der sich über alles lege wie eine graue Suppe, so dass man nichts mehr erkennen könnte.

Erster Preis Bleiburger Literaturwettbewerb 2023