2 Menschen, eine Jelka und ein Stanko, ein Stefan und eine Martina, oder ein Martin und eine Stefanie, oder eine Jelka und eine Martina, oder doch ein Stefan und ein Stanko? Vielleicht sogar eine Fatima und ein Magomed? 2 Länder, junge Nationen, mit frischgezogenen Grenzen, die Grenzsteine und Schrankenbalken noch in strahlendem Rot und makellosem Weiß – erst seit einigen Jahren trennen sie, was vor zwei Generationen noch ähnliche Dialekte sprach und ohne Zölle zu zahlen landwirtschaftliche Produkte handelte, Brot und Käse und Speck, Kartoffeln und Pferde, Gemüse und Schnaps. Und jetzt: es geht so. Im Norden läuft’s relativ rund, mit Einschränkungen natürlich, den wirtschaftlichen Umständen entsprechend. Aber im Süden: Naja, da schwächelt es. Selbst wenn sie wollen würden, es geht halt nicht so einfach, von nichts kommt nichts und ohne Fleiß kein Preis, sagen die im Norden, gar nicht hinter vorgehaltener Hand sondern frei heraus, von der fettigen Leber weg sozusagen, in Leitartikeln, bei Podiumsdiskussionen und Fernsehinterviews, auf Wahlplakaten und in Schulen: die Arbeitslosigkeit komme vom Unwillen und der Faulheit, diese vielleicht wiederum von der Hitze, und die Korruption sei ihnen angeboren, die komme vom System, dafür könne niemand was! Vor allem niemand von außerhalb. Das ist wohl deren Sache, bitteschön, wenn sie Geld wollen, dann sollen sie sparen, die Schmarotzer, die Schlawiner, das kennen wir schon, mit allen Tricks, und dann vielleicht auch noch undankbar, dabei bekommen sie ja eh Kredite von der Mutter aller Banken! Und zumindest die Panzer sollen sie zahlen, und die Hubschrauber natürlich auch, bestellt ist bestellt und die Verträge sind unterschrieben, sonst leidet das gesamte Finanzwesen, verdammtnochmal, und dann, man stelle sich vor: EndeGelände, SchlussBasta! Aber eigentlich, das mit den Krediten und den Steuern usw. - undurchschaubar! Aber egal, solange die ein bisschen leiden, das wär ja noch schöner!

Und da dazwischen also die 2 Menschen, vielleicht Rosalie und Matthias, der Einfachheit halber. Beide durchschnittlich, aber mit verschiedenen Maßstäben gemessen, aus ungleichen Verhältnissen zwar, aber gar nicht so unähnlichen: gemeinsame Vokabeln und dieselbe Hendlsorte, dieselben Äpfel und derselbe Regen. Sogar das Meer teilen sie sich, müssen sie sich zwangsläufig teilen (kann man ja schwer einzäunen), und den Wind, den sich die Leute gegenseitig aus den Segeln nehmen, und die Fische, um die schon Fischer mit rostigen Haken von Boot zu Boot gekämpft haben, geschimpft und gerangelt, bis das Schinakel fast kippte, bis das von den Industriebetrieben verunreinigte Küstenwasser schon hineinschwappte und so den Lebensunterhalt gefährdete, den noch zappelnden Fang und das Boot, von dem schon die Farbe abblättert. Drohende Fäuste, zerschnittene Netze und Segel.

Die 2 Menschen aber: gesund (den Umständen entsprechend), unschuldig (soweit möglich) und jung (kaum 20, wenn überhaupt). Ob sie sich kennen? Wer weiß, aber wenn, dann nur flüchtig. Vielleicht bringt sie Gemüse ins Nachbarland und verkauft in der nächsten Stadt, was nach den zwei Grenzkontrollen noch davon übrig ist, um bitter nötiges Kleingeld zu erwirtschaften: für das Petroleum und Vaters Tabak, für die Bank und den Internetanschluss. Und er sieht sie am Markt, ärmlich, aber sauber gekleidet, den Bauchladen stolz vor der anmutig gewölbten Brust oder so ähnlich, das dunkle Haar streng zu einem Zopf gebunden oder offen in der Brise wehend, vielleicht sind die blonden Locken auch kurz geschnitten oder Nichts von alldem und etwas völlig anderes, gar ein Kopftuch. Oder er übertritt nachts wagemutig die Grenze ohne Papiere, ein Lausbubenstreich nach Bier und Schnaps, wer traut sich? Um zu schmuggeln vielleicht, verbotene Schriften etwa, Pamphlete und aufrührerische Flugblätter, und nachdem diese im Schutz der Dunkelheit an Wänden affichiert worden sind, findet sie ihn im Morgengrauen im Heuschober schlafend, ein kurzer leidenschaftlicher Blick aus müden Augen, sie mit der übervollen Milchkanne in der Hand (als sie die Tür öffnet schwappt sogar ein bisschen was über, man stelle sich das vor) und er mit kratzigem Heu in den Haaren und am Hemd. Oder genau umgekehrt, alles anders! So ist es besser: sie bringt die revolutionären Texte, er liegt besoffen neben der Straße.

Vom Sehen kennen sie sich also, unsere 2 Menschen, aber eine Bucht trennt sie, ein Einschnitt in die Küste, eine Parabel, an deren Scheitelpunkt die Grenze ans Meer stößt, die auch noch ins Wasser hinein künstlich verlängert wurde: Dutzende Bassins zur Salzgewinnung, im Laufe der Jahrhunderte angelegt, haben die Bucht zu einem Zwischending zwischen Meer und Land gemacht und zeigen von oben betrachtet auch den technischen Fortschritt: die ältesten Becken in der Nähe der Küste sind unregelmäßig und händisch geschaufelt, errichtet in einer Zeit, in der noch gemeinsam gearbeitet wurde. Dann schließt eine Reihe von exakt angelegten Sechsecken an, die auf beiden Seiten der Grenze gleich sind (die Zeit der Diktatur – da war noch alles ordentlich und die Leute hatten Arbeit!), und schließlich kommen die neuesten, mit schwimmenden Baggern entlang der gedachten Grenzlinie Gebauten.

Auf beiden Seiten ist das domestizierte Salzwasser von Hügelketten begrenzt, über die die Sonne auf- und der Mond untergeht, oder vice versa, das ist situationsabhängig, die sind flexibel die zwei. Flexibler vielleicht als die 2 Menschen, die jetzt gerade an den vordersten Kanten ihrer jeweiligen Hügelkuppe stehen und zum Beispiel die Sonne im Meer verschwinden sehen könnten, die Wellen für kurze Zeit orangerot gefärbt, und die vielleicht in genau diesem Moment aneinander denken, oder zumindest an diesen einen Blick, denn an mehr können sie sich nicht erinnern. Dann ein Seufzen und ab nach Hause, eventuell gedankenverloren die Ziegen vor sich her über den felsigen, zedernbewachsenen Hang treibend.

Ein paar Jahre vergehen, Mond und Sonne gehen auf und unter, das kosmische Ballett, eh schon wissen. Bäume treiben aus, Knospen blühen auf, Früchte fallen faulend auf die Erde, das ganze Programm. Und die 2 Menschen? Wo sie waren sind sie jetzt nicht mehr, vielleicht sind sogar die Häuser verlassen und verwahrlost, die Dächer eingefallen, eventuell liegen die Felder brach und nur eine Alte oder ein Alter sitzt allein auf der Bank vor dem ehemaligen Küchenfenster, ergebener Blick in die Ferne. Denn dort sind die 2 wahrscheinlich, wenn sie nicht da sind, und wissen nichts voneinander, mühen sich ab. Noch sind ihre Rücken gerade und ihre Gesichter ohne Falten, aber das wird schon noch.

Der Zufall hat beide in die große Hafenstadt gebracht, wobei, naja der Zufall? Mehr der ökonomische Druck oder so. Die Hafenstadt also, Handelsmetropole und Hauptanlegestelle für die großen Frachter, ein lebendiger Schmelztiegel, es wuselt in den Gassen, auf den Chausseen brausen die Coupés und Cabriolets und auf den Kanälen drängen sich die Lastkähne. Und genau dort arbeitet er vielleicht, schwitzend in der Sommersonne, frierend im Winterwind, Schwielen an den Händen von den rauen Seilen, aber kräftig ist er geworden, erwachsen sieht er aus. Er übernimmt mit seinem Kollegen Güter von den großen Schiffen, verstaut sie auf ihrer Schute und dann paddeln sie zu den Lagerhäusern beziehungsweise suchen sie mit langen Stangen im schlammigen Wasser nach Grund und bewegen sich stakend vorwärts. Im Lagerviertel angekommen dann erneutes Verladen, jedes Stück noch einmal angreifen: Kisten und Fässer auf die Kranplattform laden und die Jutesäcke voller Tee oder Kaffee hinaufwuchten mit Haltegriffen, an deren Vorderseite große Klauen herausragen, damit dann der dampfbetriebene Lastenaufzug alles nach oben ins trockene Lager bringt. Vielleicht ist er aber auch gar nicht am Boot, sondern oben, im 2., 3., 4. Stock und lehnt sich gerade riskant aus der großen Öffnung in der Wand, um mit einem Haken das Seil einzufangen und die ganze Ladung zu sich heranzuziehen, damit sie abgeladen werden kann: Tabak und Kautschuk (blutende Bäume!), Baumwolle und exotische Früchte, Gewürze, Zucker und Reis und manchmal sogar Salz aus der Heimat. Schwer ist das, natürlich, harte Arbeit für wenig Geld, aber dafür ist hier und da manchmal ein Sack oder eine Kiste kaputt, wurde leider zu grob behandelt und ist aufgegangen, so dass alle ein wenig davon profitieren können: ein Häferl Kaffeebohnen oder ein Pfeffervorrat für ein ganzes Jahr, oder: dieses Fass Rum ist nie bei uns angekommen!

Wenn am Abend dann die Segel eingeholt und die Dieselmotoren verstummt sind, findet man ihn inzwischen schon viel öfter als früher in den Kneipen im Hafenviertel an einem Spielautomaten oder in der Videokabine; von dem Geld, das er als Hilfsarbeiter verdient, schickt er kaum mehr was nach Hause: alle paar Monate ein Brief mit ein paar Worten und zu den Feiertagen ein paar kleine Scheine oder ein Scheck.

Es besteht aber auch die Chance, dass er gar kein Hilfsarbeiter ist, er ist ja quasi von hier, kein Einheimischer, aber ein Landsmann. Vielleicht hat er einen reichen Onkel, der in der Kriegsindustrie tätig ist oder selbst ein Lagerhaus besitzt, mit Immobilien handelt oder gar einem internationalen Konzern vorsteht und der den jungen Verwandten beschäftigt: das Privatkapital bleibt in der Familie, wird geschickt angelegt und vermehrt sich steuerbegünstigt, während die Löhne gleich bleiben oder von der Inflation und der kalten Progression aufgefressen werden – wer auf der einen Seite geboren wird, hat großes Glück und gut lachen, alle anderen sollen gefälligst die Goschn halten! Das war doch immer schon so, alle haben doch die Chance, eine gute Ausbildung zu machen, man muss nur wollen, der Sozialstaat kümmert sich doch eh und eigentlich wird viel zu viel umverteilt, ja wer bezahle denn das alles, die Waisenhäuser und Straßenprojekte, die Arbeitslosen und Kunstvereine? Wohl die fleißigen Reichen mit ihren Steuern, 60%, also bitte sehr! Die einen wissen es sich geschickt zu richten, treffen zum Mittagessen den Herrn Monsignore und den Herrn Kommerzialrat bei der Soiree, auch der Herr Doktor und Frau Gemahlin sind heute da, küss die Hand; die anderen kommen kaum zurecht, weniger Geld und mehr Arbeit, zuhause plärren die Kinder und alles wird teurer, aber das neue Handy war mit dem 3-Jahresvertrag und Ratenzahlung im Angebot, das haben alle in der Klasse, dann bekommt es der Älteste auch, denn es müssen nicht gleich alle merken, dass wir arm sind! Und so bleiben sie vernetzt, gefangen in den klebrigen Fäden der neuen Medien, undsoweiterundsofort, kein Gespräch beim Abendessen, nur bläulich beschienene Gesichter und Panik, wenn es kein WiFi gibt sowie quietschende Reifen am Zebrastreifen, weil so ein junger Trottel nur am Bildschirm herumwischt und keine Augen für etwas Anderes mehr hat.

Wenn es also so gelaufen wäre, dann säße unser junger Mann abends nicht in den billigen Kneipen, sondern im Musikpavillion, im Restaurant oder in der Revue und würde kandierte Früchte und exklusive Bonbonieren nach Hause schicken, oder vielleicht auch nicht.

Und sie? Sie ist unter Umständen nicht so leicht zu finden, da muss man schon genauer hinschauen, immerhin darf sie eigentlich ja gar nicht hier sein! Eine Fremde, ja wie ist die überhaupt hierhergekommen? Da gibt es doch schon lange eine Mauer, einen Stacheldrahtzaun und Hunde, wegen der vielen Wirtschaftsflüchtlinge und weil es auch schöner ist so, exakte Grenzen, klare Rechnung, gute Freunde. Ist sie etwa? Mit dem Boot? Mit einem dieser Verbrecher? Unter Lebensgefahr, das letzte Geld in der Hoffnung zusammengekratzt, die geliebte Heimat zurückgelassen, Panik und bange Stunden im überfüllten Schlauchboot, ohne Trinkwasser und Orientierung? Verräterin! Kein Wunder, dass bei denen…! Und was sollen wir dann machen, wenn alle glauben…? Und die ganzen Krankheiten, da müssen wir schon aufpassen, die Seewege militärisch absichern, denn wenn die dann da sind…! Arbeiten will ja auch niemand von denen da unten, das hab ich in einem Leserbrief gelesen! Und die machen sich ihre Konflikte ja sowieso selbst, damit haben wir nichts zu tun! Da können wir doch auch nichts dafür! Prost, noch eine Runde Marille, Herr Wirt!

Sie ist also vermutlich auch da, aber nicht in der Revue, die er sich anschaut. Sie ist zwar schön und weiß auch, sich zu bewegen, aber die Stadtverwaltung schaut da ganz genau! Keine Volksfremden in den Tanzshows, nicht einmal im Orchester, wo man sie ja gar nicht sehen würde, und die Sache mit den Männern in Frauenkleidern hat sich auch aufgehört, mit solchen Perversionen haben wir hier nichts zu tun! Da wird vor jedem neuen Programm genau begutachtet, der Herr Polizeipräsident und auch der Chef der privaten Sicherheitsfirma, fürderhin ein Vertreter des Senats und einer der nachbarschaftlichen Sittlichkeitsaufsicht sowie ein Abgesandter der vereinigten Kirchen. Privatvorstellung mit Einzelgesprächen, bitte, schöne Frau, legen Sie doch ab, wir sind ja ganz unter uns, also, nun erzählen Sie einmal, wie kamen Sie zum Bauchtanz, woher kommen Sie? Und wenn Sie irgendwann einmal etwas brauchen, hier ist meine Karte, ich schreib Ihnen auch meine Privatnummer drauf, für den Fall der Fälle, ich bin ein Freund der Künste und einer Ihrer größten Bewunderer. Durchgewinkt, abgesegnet und ein Klapps auf den Knackarsch, die Musiker werfen ihre Zigaretten weg und weiter geht’s!

Dort ist sie also nicht, in den inneren Bezirken der Stadt, auf den Flaniermeilen und bei den gepflegten Häusern, wo die gepflasterten Straßen täglich gekehrt werden und der sternförmig angelegte Altstadtkanal daran erinnert, dass die reiche Handelsstadt früher im Kriegsfall ein beliebtes Ziel war: vom Ozean aus ein paar Kilometer die ausladende Flussmündung hinauf, vorbei an den Kapitänsvillen, und schon wartete ein Paradies mit Schätzen aus aller Welt. Es muss also schon ein wenig genauer hingeschaut werden, um sie zu finden, weg von den dunkelroten Backsteinfassaden mit den weißen Fenstern und kaum vorhandenen Dachüberhängen, weg von den verzierten Säulenhallen und Kastanienalleen, hinaus in die ehemaligen Vororte, die früher nicht in der Freihandelszone lagen, bevor dieser zollfreie Bereich in das Großreich eingegliedert worden war. Außerhalb der ehemaligen Stadtmauer, wo die lehnpflichtigen Minderleister mit den Dirnen verhandelten und verhandeln, dort könnte sie zu finden sein, wenn man genau schaut, wenn die schmutzigen Vorhänge der Zimmer mit mehrfach belegten und verwanzten Betten zur Seite geschoben würden oder man gar einen Blick in die modrigen Keller werfen würde. Dort könnte sie also sein, in den Bezirken, die einmal außerhalb des Hoheitsgebietes lagen und wo sich die Niederen herumtreiben, wo sie herumhuren und herumlungern.

Und was macht sie da? Ums Überleben kämpfen wahrscheinlich, nichts Genaues weiß man nicht, die Leute scheinen ja nirgends auf, in keiner Statistik, keiner offiziellen Liste und in keinem Vertrag. Vielleicht macht sie sauber, in einer der Stadtvillen oder sich selbst, damit es keine befleckte Empfängnis gibt, nachdem sie einen ungewaschenen Matrosen empfangen hat. Ganz akribisch spült sie, denn das könnte sie jetzt brauchen, das hart verdiente Geld zur Engelmacherin tragen! Eine Schüssel bleibt stehen am Lehmboden für die Nächste in diesem feuchten Loch – sie wechseln sich ab – und manchmal nimmt sich der Vermieter, was er will, wenn er nachts aus der Branntweinstube kommt und es sich wieder einmal vorne und hinten nicht ausgeht mit der Miete. Viel bleibt ihr also nicht vom hart erarbeiteten Geld, aber sie könnte es sowieso nicht über die Grenze schicken, sie weiß überhaupt nicht, ob ihre Briefe überhaupt ankommen, oder ob sie geschwärzt werden, etwa so: xxxxx Mutter, xxxxx es geht mir xxxxx, die xxxxx ist xxxxx Grüß xxxxx und…

So könnte das also sein, oder auch ganz anders. Oft denkt sie an zuhause, wenn sie über das schmutzige Hafenwasser schaut und hinter ihr das rege Tagesgeschäft lärmt: klapprige, schwer beladene Fuhrwerke hinter schnaubenden Rössern, das Surren der elektrischen Straßenbahnen, hinter ihr ziehen gläserne Personenkabinen und moderne Güterwägen selbstfahrend vorbei – in ihren Gedanken ist sie aber in ihrer Bucht und bei den kleinen Häuschen der Salzarbeiter, die zwischen die Becken auf die schmalen Schotter- und Wiesenstreifen gepflanzt sind. Sie erinnert sich daran, wie wöchentlich das Salz auf Wagen verladen und vorsichtig, die Wege sind schmal und trügerisch, ans echte Festland gebracht wurde. Und dann fällt ihr vielleicht ein, dass sie einmal im nur wenige Zentimeter breiten Grünstreifen zwischen Wohnsilo und betoniertem Beckenrand eine einzelne Grille gesehen hat, sicherlich die einzige im Umkreis von hunderten Metern, die unbeirrt in die Abendluft hinaus zirpte: seht her, hier bin ich! Sonst gab es in der Bucht nur Schnecken, die zu Tausenden die Grenzpfosten mit ihren Schleimspuren überzogen, ganz nach oben krochen und sich dort paarten.

So steht es also um die 2, so oder auch ganz anders, es liegt nur an uns: wie wir uns das Ganze vorstellen, so ist es auch. Vielleicht ist er ein netter Kerl geworden, ein verantwortungsbewusster Familienvater, und sie verbreitet weiter Pamphlete über geringere Lebensarbeitszeit, ein progressiveres Steuersystem, über Herrschaft, Patriarchat und Macht und festgefahrene wirtschaftspolitische Strukturen, über die Gefährlichkeit der Religionen und die Ungerechtigkeit von Immobilienbesitz und Bildungsunterschieden. Vielleicht schreibt sie Artikel über instrumentalisierte Medien und Information als Währung, aktiven Widerstand gegen Überwachung, über nachhaltiges Wirtschaften und bewussten Umweltschutz; Abhandlungen über neue Formen der Demokratie und aufgeklärten, gleichberechtigten Föderalismus, über die Überwindung des Kapitalismus und die Auflösung aller darin eingebetteten Unterdrückungsstrukturen und davon, dass Imperialismus, Rassismus, Sexismus und andere Hässlichkeiten ohne das antrainierte Konkurrenzdenken keinen Nährboden mehr fänden, kurz: über Perspektiven auf ein gesundes Leben. Oder sie verfasst Parabeln voller phantastischer, surrealer Bilder, die sie auf Wände klebt oder sprüht, etwa so:

Aus einem Fluss, der sich tief in eine trockene Steinwüste eingegraben hat, schöpfen gekrümmte, magere Figuren Wasser, das sie in Eimern aus der zerklüfteten Schlucht nach oben bringen, anfangs von Hand zu Hand in einer Kette weitergereicht, später bewegt durch ein komplexes Transportsystem aus Spiralen, Speichern und Rinnen, das die gesamte Arbeitskraft dieser Gesellschaft benötigt. Immer höher pumpen sie die kostbare Flüssigkeit, aber es kommt nur wenig Wasser an. Schließlich wird es ausgeschüttet an der obersten Ecke einer sanft abfallenden Fläche, die sich wie ein aufgelehntes Dreieck in die Unendlichkeit erstreckt, um diesen unwirklichen Hang zu bewässern, damit zwei kugelrunde, kindliche Figuren auf einer Blumenwiese ausgelassen spielen können.

Veröffentlicht in: Lichtungen 147, 2016