Die Luft im Bus war anders als draußen. Keine Überraschung, aber doch eine kleine Herausforderung, die ein kurzes Anhalten des Atems nötig machte: aus der kühlen, dumpfen Frische des Nadelwaldes, der schweren Feuchtigkeit des moosigen Waldbodens und den immer wieder zitronig durchstechenden Sonnenstrahlen hinein in die Abgeschlossenheit des großen, behäbigen Fahrzeuges voller Achseln, Jausensackerln und sich durch die Fensterschlitze einschleichender Abgase – ein Terrarium auf Rädern, das die aufgeheizten Sommergerüche quer durch die hechelnde Stadt transportierte. Bereits am kurzen Weg vom dunkelgrünen Waldrand über die hellgrüne Wiese zur Haltestelle war die satte, dichtere Baumluft zurückgeblieben, die Augen hatten sich umstellen müssen und die Sonnenbrille war ein willkommener, schwarzer Schutzschild geworden gegen den goldgelben Überlandbus. Und in diesem hockten sie jetzt wie trockene Reptilien auf samtig-heißen Sitzen, aus denen der Staub und die Acrylfasern aufwirbelten, wenn man sich beim Losfahren hinfallen ließ. Und wenn dann der Mund auch nur leicht geöffnet war, weil man den Bus gerade noch rechtzeitig um die Kurve kommen gesehen hatte und deswegen laufen hatte müssen und somit selbstverständlich ein bisschen außer Atem war, dann legten sich die Geruchspartikel auf die Zungenoberfläche, das war bekannt: sie bleiben haften auf der Schleimhaut und provozieren das Gefühl, sich die gesamten Geschmacksnerven abschaben zu müssen.
Nach sieben Stationen, an denen niemand ein- oder ausstieg, kam dann das schwankende Aufstehen, ein Druck auf den signalroten Klingelknopf, man will ja nicht stören, aber: STOP. Das Gesicht des Fahrers: verkleinert im Spiegel, als er kurz zurückblickt. Auf die Distanz ist es schwer einzuschätzen, ob ausdruckslos oder vorwurfsvoll, und fast möchte man sich entschuldigen für die Unannehmlichkeit und versucht deshalb aufmunternd zu lächeln. Was er sich jetzt wohl denkt?
In der Fußgängerzone kommen verschiedene Figuren entgegen und mit ihnen beginnen die Geschichten zu strömen. Sofort stellt sich eine wohlbekannte, lange vertraute Routine ein, und hinter einem Augenaufschlag verbirgt sich eine kleine Lüge, eine Nasenspitze deutet auf eine Liebschaft hin und leicht gespitzte Lippen zeigen Enttäuschung und Wut.
Sie: hat sich schon wieder mit ihrer Mutter gestritten und braucht jetzt ein Erdbeereis, das sieht man am Gang.
Er: glaubt, wegen der Sonnenbrille merkt niemand, wenn er ihr in den Ausschnitt schaut.
Der andere: kommt gerade von einem Arzttermin, das merkt man an den Augen. Die Zeit läuft, man kann nichts Genaues sagen, aber hoffen wir auf die Therapie!
Die zwei im Gastgarten: kennen sich seit Jahren, jetzt haben sie mich entdeckt, schnell wegsehen!
Sie: möchte einen Hund, aber einen lieben.
Ein Korallenschmuckmeister, einer unzählbare Generationen umfassenden Familie entstammend, die alle diese filigrane Kunst ausübten, verfeinerten, individualisierten und weitergaben, stellt seine Arbeit ein, weil es keine Korallen mehr gibt.
Bis zum Zerplatzen gespannt, angefüllt bis oben hin mit einer ständigen Wut, einer stetig andauernden Überdehnung, die sich wie eine lebenslange, alles überdeckende Enttäuschung anfühlt. Aufgedreht bis zum Zerreißen, kein Trotz, eher eine hasserfüllte Verzweiflung, eine Unzufriedenheit mit allem, aber vor allem mit sich selbst, mit jeder einzelnen Bewegung, jedem registrierten Blick. Beim Völkerball werden die später einmal Augen machen, meinen sie, und Hauptsache gesund, wie man sagt.
Wieder weit weg, in den Augen ist schon wieder diese Distanz, als ob er sich heimlich entfernt hätte, wird hinter vorgehaltener Hand angemerkt, nachdem er den Raum verlassen hat. Trotzdem bleibt dieses ständige Drängen nach draußen immer spürbar. Eine konstante Unruhe, die sich aber nur in seltenen Ausbrüchen und Auszuckern zeigt, denn meistens bleibt er völlig regungslos, komatös fast – und niemand kann dieses innere Heimweh wirklich erkennen oder einschätzen, geschweige denn beschreiben: keine Worte werden dem gerecht, diesem nicht zu unterdrückenden Wunsch endlich erkannt und verstandenzu werden und gleichzeitig verstehen zu können. Aufgehoben zu sein und dazuzugehören, aber zu etwas, das man sich selbst aussucht! Anerkannt zu werden als etwas ganz Besonderes in einer Gemeinschaft von Auserwählten, die nicht Teil einer zufällig zusammengewürfelten Gruppe sind. Innerlich aufgerieben, eine unbändig aufflackernde Hitze, die durch die ständige Reibung der einzelnen Elemente und Partikel immer wieder unregelmäßig an- und abschwillt – an der Außenseite aber doch so kontrolliert und kühl, als ob eine innere Leere nach außen gestülpt worden wäre, die dann ganz selten und unvorhergesehen explodiert. Aber wenn, dann richtig! Jedes Mal unerwartet, überraschend und heftig, um dann wieder unausweichlich in sich zusammenzufallen.
Später dann: ein Anpassungsdruck, der alles aufzehrt. Orientiert an etwas, das nicht greifbar ist, komplex und unverständlich; ein immanentes Ungerechtigkeitsgefühl, weil alles ungerecht ist. Nicht nur die Welt ihm gegenüber, sondern die Welt auch sich selbst gegenüber und er der Welt gegenüber und vor allem: er sich selbst gegenüber. Hohe Erwartungen, von sich und allen Anderen, und ein Gefühl der Leere, wie ausgehöhlt, weil die Energie für eine stabile Maske drauf geht. Schmerzlich missverstanden von Anfang an, für immer am falschen Ort zur falschen Zeit, ein niemals erfassbares Gefühl, unbegreiflich, und doch kennen es alle.
Es gäbe so viel zu sagen, aber es kommt keine Erklärung, kein wohlformulierter Satz, nicht einmal ein dahingemurmeltes Wort wird laut. Alles bleibt im Inneren und wirbelt ziellos durch die Areale hinter den Augen und zwischen den Ohren, bleibt dann aber immer knapp oberhalb des Mundes stecken und kitzelt so in der Nase, dass er schreien möchte.
Im Orbit werden Kamerasysteme installiert, die Bewegungen von Flugzeugen, Raketen und Cruise-Missiles aufzeichnen. In der unendlichen, ungewissen Zukunft wird ein karger Planet gefunden, um den die Aufzeichnungen seines eigenen Untergangs kreisen.
8 Stufen, von denen du die letzte auslässt, drei Schritte am Treppenabsatz zum Umdrehen, dann 3-mal eine Stufe überspringen damit die Rechnung stimmt und schließlich bei der Haustür hinaus - das ist gut gegangen, fehlerfrei: heute wird ein Spitzen-Tag, da kann nichts mehr schief gehen!
Am Gehweg warten sie schon: „Coole Mütze!”
Bammm, was soll das, warum wurde das gefragt, was ist gemeint, was ist gewollt?
„Seid herzlichst gegrüßt!”
Alle kurz baff, du selbst am meisten: Warum hast du das jetzt gesagt, blitzt es durch den Kopf, jetzt hilft kein auf die Zunge-Beißen mehr, keine Entschuldigungs-Nachricht, über der stundenlang gebrütet werden könnte - es ist ausgesprochen und draußen. Ein seltsamer Kauz! Wie sie sich kurz angeschaut haben, als du es gesagt hast, du hast es gesehen! Im Kopf zieht es sich zusammen, eine unwillkürliche Bewegung, oder verstärkst du sie doch selbst? Sie fließt eigenständig: ein Muskelimpuls, über lange Jahre angewöhnt, vorsichtig und doch mit Bestimmtheit, bei vollem Bewusstsein aber unkontrollierbar. Und schon zuckt auf vertrauten Bahnen der Kopf plötzlich leicht nach links oben, 537! Ein Wegwischen des Gedankens, der Situation, und wenn es nur ginge der gesamten Welt. Es folgt kurze Erleichterung, aber dann ist der Gedanke wieder da!
Du hast es verbockt – sie werden es allen sagen, sie wissen es schon längst, sie werden sich bestätigt darin fühlen, dass du ihrer nicht würdig bist, unwürdig, unrein – seltsam und anders, aber nicht außergewöhnlich, nein nur komisch und sonderbar. Zur Beruhigung sind die Schritte zwischen den Parkbänken in der Allee zu zählen, immer kontrolliert durch einen unauffälligen Blick zur Seite, damit die Sohle den Boden genau parallel zur Einfassung berührt: die Einschätzung des rechten Winkels inzwischen ein automatisiertes Kinderspiel - Körpergeometrie, Seelenmathematik: 7, 3, 5. Und wieder der Kopf: die Gedanken werden weggeschoben, fortgeschubst mit dieser einen schnellen Bewegung, die schon fast behaglich ist – der Kopf zuckt und muss und muss und kann nicht anders!
Wissen sie, was in dir abgeht? Ja natürlich, sie schätzen mich ein, sie wissen mehr, hören mich innerlich – deshalb wollten sie sich auch treffen, und deshalb reden sie jetzt über den Film. Lass dich jetzt nur nicht unterkriegen! Mitreden, sonst fällt es auf, und du weißt mehr über diesen Film, kurz warst du direkt angesprochen, als sich Burbank in die Kamera dreht, das kann kein Zufall sein! Sie wollen dich aus der Reserve locken, aber zuerst gaukeln sie dir ihre konstruierten Meinungen vor, um deine Wahrnehmung … ja, da ist ein Zusammenhang, ein Konstrukt um deine Handlungen zu – beeinflussen – nein, gar nicht beeinflussen, was soll denn das schon wieder!
Das Bewerbungsgespräch morgen. Du hörst: „Du wirst es schon schaffen!” Und du verstehst: „Du kannst es nicht nicht schaffen, denn es wurde alles so eingerichtet, dass du es schaffen musst, der Weg ist eingeschlagen und vorbereitet, ein paar Hindernisse drapiert, mit Echtheitszertifikat und Authentizitätsanspruch.“ Es gibt eigentlich kein Zurück. Und dann begreifst du mit einem Mal: „Du kannst es gar nicht schaffen, weil es so dargestellt wird, dass du es schaffen musst, deshalb wirst du es gar nicht versuchen, um ihnen einen Strich durch die Rechnung zu machen, und genau das wollten sie von Anfang an.“
Die zwei da hinten auf der Bank, die starren mich direkt an! Das ist bedeutsam, oder? Jetzt beginnen sie wieder zu reden, und jetzt hören sie wieder auf, da gibt es doch einen Zusammenhang! Plötzlich ein Auflachen hinter dir, aber sei stark und dreh dich nicht um, weil dann ja sowieso alle wegschauen und so tun, als ob nichts wäre.
Immer öfter taten sich Löcher im Boden auf, in denen ein Stück Welt verschwand: ein rostiger Fahrradständer, ein silbernes Auto, ein blühender Himbeerstrauch, eine ganze Bushaltestelle. Anfangs noch überraschend und unregelmäßig, wurde es schnell zu einer Gefahr, auf die man gefasst war. Die Wirklichkeit war durchzogen von klaffenden Wunden, und alle rechneten ständig damit, plötzlich für immer verschlungen zu werden.
Anschleichen, vorsichtig und von der Seite, dann eine schnelle Kontrolle: Alles ist verzerrt, als wäre das Blickfeld über eine Kugel gezogen und darübergestülpt, als würden die Ränder sich verziehen. Es sieht ruhig aus draußen am Gang, zu ruhig vielleicht. Aber wer weiß, was direkt neben dem Fußabstreifer passiert? Knapp außerhalb der Sicht, die der Türspion eröffnet, rechts unten im toten Winkel? Gab es den Korridor überhaupt noch oder war er vielleicht verschwunden? Kurz vorher war eine Tür ins Schloss gefallen, aber leiser als üblich, als ob es jemand verheimlichen hätte wollen! Alles eine Konstruktion, um meine Handlungen und Entscheidungen zu beeinflussen? Völlig erschöpft – was für ein Opfer lehnt da an der Wand! Wie sie gelacht haben, als du gestern zum Tisch zurückgekommen bist. Na wartet! Was ist hier eigentlich noch echt? Was außer mir ist authentisch?
Dreimal den Türrahmen berühren, dann vorbei am Spiegel, dessen Existenz mir bewusst ist und vor dem der Blick im Vorbeigehen jedes Mal wie zufällig gesenkt wird, sieben Schritte auf den Fliesen und fünf am Parkett bis zur Couch, und dann plötzlich die Einsicht, es sei nicht alles ein Zeichen – sich ertappt fühlen und schämen für diesen Wahn und es am liebsten allen erklären wollen. Nicht alles ist bedeutsam und bestimmt dein Schicksal; niemand interessiert sich dafür, ob du dieses oder jenes machst! Die ganze Welt dreht sich um mich – ziemlich viel Welt für einen allein, hm? Plötzlich wieder ganz am Boden, aber nicht nur mit den Füßen, nein gleich mit dem ganzen Körper, bleischwer. Die Wände drücken sich durch und pulsieren. Verschwommen kann man an der Decke in den weißen Schlieren ein Gesicht erkennen: der Kommerzialrat ist wieder da.
Ein anderes Bild kommt plötzlich vor die Augen, schiebt sich zwischen das Ich und die Welt, ein Bild aus einem Zeitschriftenartikel: das perfekte Gefängnis, 1791, schon die Jahreszahl war anziehend, schöne Ziffernsumme! Errichtet rund um einen alles überschauenden, beruhigend kontrollierenden Turm in der Mitte erstreckten sich über mehrere Stockwerke die einzelnen Kammern: niemand wusste, welcher Raum in welcher Richtung gerade beobachtet wurde, wer gerade überwacht wurde. Nur dass es hier umgekehrt war: in der Mitte war er und konnte von allen Zellen aus observiert werden – ausgesetzt der feindlichen Beobachtung, umgeben von potenziellen Urteilen, war nie klar, welche Zellen besetzt waren. Wie sollte er sich vor diesen Blicken in seinem Glaskubus in der Mitte schützen? Es gab kein Entkommen!
—–3—-5——-7——–5——-7——-3—7————-5—–3——-
Seit Tagen dichter Nebel über allem, in dem die Krähen schon nach wenigen Metern verschwinden, der sogar ihre Rufe verschluckt. Es gibt keine Tageszeiten mehr. Jeden Morgen aufstehen und hoffen, dass es endlich vorbei ist – jeden Morgen erneut enttäuscht. Am Weg durch den Verbindungsgang in die Gaststube das wirkungslose Klicken der Bewegungsmelder: die meisten Lichter sind vom Stromnetz genommen, nur mehr der zentrale Bereich wird versorgt, der Rest bleibt dunkel. Als sich das Wetter doch noch ein bisschen bessert, die Wolkendecke sich gelegentlich lichtet und ein paar Sonnenstrahlen durchlässt, schlüpfen die Leute aus den hintersten Winkeln der Hütte, in die sie sich verkrochen hatten.
Der Herbst war die schlimmste Zeit. Die Furcht vor dem Winter machte sich bereits breit, als die Tiere begannen, ihr Fell zu wechseln und sich nach unten ins Hochtal zurückzogen. Dann blieb nur mehr wenig Zeit, bis es lange dunkel bleiben würde – im ersten Jahr waren sie 7 Wochen komplett eingeschneit gewesen, mit freigeschaufelten Lichtkanälen vor den Fenstern und der Hoffnung, dass die Stromversorgung nicht allzu schnell den Geist aufgeben und die Batterien wenigstens ein paar Tage halten würden. Bohnen aus der Dose, faulige Zwiebeln, gedörrtes Gämsenfleisch, Eintopf: Schweigend hinuntergewürgt, den Blick sehnsuchtsvoll aus den bis auf einen schmalen Spalt zugeschneiten und verwehten Fenstern oder starr an die Wand geheftet. 35 Frauen und Männer, die sich selbst ein Gefängnis gesucht hatten, isoliert und abgeschieden, weit weg von allem und sicher.
Anfangs hatten sie sich noch gegenseitig motivieren können: Karten- und Brettspiele, Schnaps, Fitnesstraining, Sing- und Gitarrenabende und Theaterstücke mit in mühsamer Arbeit liebevoll gestalteten Bühnenbildern. Einmal in der Woche veranstalteten sie einen Filmabend mit Popcorn und manchmal bauten sie den Gang vor den Zimmern um in eine Kegelbahn. Nach den ersten Wochen hatten sie ein ausgedehntes Tunnelsystem im meterhohen Schnee gegraben, zum Zeitvertreib Festungen und riesige Figuren gebaut: eine frostige Armee, die sie beschützen sollte vor dem, was unten lauerte.
Nach ein paar Monaten war nicht mehr viel übrig gewesen von der anfänglich guten Stimmung, von den Gefühlen des Aufbruchs, der Sicherheit, der Eigenverantwortung. Die Zuversicht war einer täglich schwerer lastenden, niederdrückenden Mutlosigkeit gewichen. Tagelange Schneestürme hatten sie verstummen lassen, denn das Heulen war lauter als ihre schwachen Stimmen und ihr Husten gewesen, und nachts hatten manche ein Poltern und Ruckeln wahrgenommen - als ob die Berge sich im Schutze der Dunkelheit bewegen und neu formieren würden. Aber niemand hatte es ernst genommen, zu schwach waren ihre Lebensenergien gewesen, zu sehr hatten sie sich auf die Aufrechterhaltung einer Tagesstruktur konzentrieren müssen. Bizarre Eisblumen hatten die Fenster im oberen Stockwerk bedeckt und täglich ein bisschen anders ausgesehen, waren gewachsen und gewandert. Lange hatte niemand die Veränderungen am Horizont bemerkt, die leichten Verschiebungen der Bergrücken, die fehlenden Gipfel in der Ferne. Was sie beschäftigt hatte war das ewige Pfeifen des Windes gewesen, das sie zu Beginn des Winters noch durch ihr Lachen und Singen übertönen hatten können. Jetzt war es nicht mehr auszuhalten. Brennholz und Vorräte hatten sie genug, aber niemand wollte sich mehr ohne überlebenswichtigen Grund hinaus in das ständige Schneetreiben wagen: Nun hieß es Kräfte sparen.
Dann im Frühling: Jubelschreie und Jauchzen! Die ersten Tage mit Temperaturen über dem Nullpunkt, gierig aufgesaugte Sonnenstrahlen, der erste freie Wiesenfleck! Tautropfen an den Balkongeländern, und bald hatten sie auch die weiter entfernt liegenden Kontrollpunkte wieder besucht und waren mit den Skiern ins Hochtal gefahren. Langsam waren die hohen Schneeverwehungen geschmolzen und sie hatten die Überreste der Lawinen beseitigt, die die Wege versperrt hatten. Rasch waren die ersten hochalpinen Blumen gekommen, winzige bunte Frühlingsboten, die aus den zwischen die kargen Kalkfelsen gebetteten Gras- und Moospolstern gesprossen waren.
Später hatten sie ihre Vorräte aufgestockt, die Jagdbeute in den tiefen Dolinen eingelagert, die sich unvermutet im schroffen Karst auftun und in denen es auch im Hochsommer Temperaturen unter Null hat. Sie hatten Feuerholz für den nächsten Winter gesammelt, denn der kleine Holzofen war in der kalten Zeit das Herzstück des Hauses geworden: Müde und ausgezehrt waren sie in der dunklen Jahreszeit in der Stube gesessen, hatten aneinandergelehnt dem Prasseln des Feuers gelauscht und das komplexe Rohrsystem der Belüftung des Passivhauses hatte es ihnen erlaubt, die Zirkulation einzuschränken und die umliegenden Räume mit warmer Luft aus der Küche zu heizen oder zumindest annähernd warm zu halten.
Sobald die Wege frei waren, hatten sie mit den ersten Erkundungstouren begonnen. Auf jeder der 3 Stufen des langgestreckten Hochtales waren bereits im vergangenen Sommer, als sie die Hütte knapp unter dem Gipfel bezogen hatten, Mountainbikes bereitgestellt worden, um die annähernd ebenen Strecken zwischen den steilen Abschnitten schneller zurücklegen zu können. Im Frühsommer hatten sie dieses System für ihre Raubzüge in die verlassenen Dörfer der Umgebung genutzt, wo sie die letzten Konservendosen und haltbaren Vorräte aus den leergeräumten Supermärkten mitgenommen und in anstrengenden Fahrten und langen Märschen hinauf zu ihrem Unterschlupf transportiert hatten. Reis und Nudeln, Salz und Schnaps, Kaffee und Essiggurken, Medikamente und Batterien – alles musste spätestens am Ende des Forstweges in Rucksäcke verpackt und durch Menschenkraft hinaufgebracht werden. Sie waren sogar auf Felder gestoßen, auf denen sich Getreide und Mais selbst vermehrt hatte – die Erntearbeit im Herbst war zu einem Fest geworden. Noch größer war die Begeisterung gewesen, als sie die Ziegen gefunden hatten: versteckt in einem Stall hatte ein Muttertier mit zwei Jungen den Winter überlebt! Als sie beim Durchstöbern eines Hofes das leise Meckern gehört und den von außen verbarrikadierten Stall aufgebrochen hatten, waren sie von den drei Tieren freudig empfangen worden, hatten sich die Hände ablecken lassen und zerzaustes Fell gestreichelt. Geduldig hatten sich die Ziegen auf eine Alm im Hochtal führen lassen, wo sie den restlichen Sommer weideten und ausgelassen herumtollten. Ein Raum im Keller der Hütte war als Winterquartier hergerichtet und die Mutterziege ans Melken gewöhnt worden. Und was für eine Freude war es gewesen, Heu zu machen: Eine sinnvolle und fürsorgliche Aufgabe, die alle Beteiligten für ein paar Tage optimistischer in die Zukunft schauen ließ. Im Spätsommer hatten sie noch Nüsse und Pilze gesammelt und die Beobachtungsposten entlang der schroffen Grate links und rechts des Tales ausgebaut, damit sie auch bei schlechter Witterung länger besetzt bleiben konnten. Und nun stand also der zweite Winter bevor. Die Spitzen des borstigen Berggrases waren bereits gelblich, an manchen Stellen rotbraun verfärbt und morgens von einer dünnen Eisschicht überzogen. Die Tage fühlten sich schon deutlich kürzer an und die Nebelfelder hingen unbesiegbar unter den Gipfeln. Alle waren schon von ihren weit verstreuten Sommerlagern zur Hütte zurückgekommen, und bevor sie alles winterfest machten, sollte es noch ein Fest geben.
Darüber, dass sich in den dunklen Wintertagen der Horizont verändert hatte, war die ganze Zeit geschwiegen worden. Niemand traute sich anzusprechen, dass auf der Schattseite eine Kuppe viel näher gekommen war; dass hier ein weitläufiges Geröllfeld entstanden war, in dem sich tiefe Spalten aufgetan hatten; oder dass dort doch eindeutig etwas fehlte: ein ganzer Gebirgszug mit mehreren schroffen, nebeneinander aufgereihten Gipfeln. Ihre größte Furcht, die seit Monaten tief in jedem und jeder Einzelnen verborgen lag, war nicht der nahende, dunkle, bitterkalte Winter oder die Ungewissheit, ob nicht doch noch jemand kommen und sie attackieren und berauben würde, ihnen die Ziegen schlachten und das Rapsöl für den Generator stehlen würde. Nicht die Angst, dass ein keuchender Bote den Grat entlang gelaufen kommen würde, der das oberste Hochtal begrenzte, um ihnen stotternd und unzusammenhängend zu erzählen, dass der Kontrollpunkt gefallen sei, und dass er losgelaufen sei, als die Letzten begonnen hatten, sich panisch von der Talstufe über die Geröllfelder hinauf zurückzuziehen, dass sie einer Überzahl gegenüberstünden und dass die vorbereiteten Steinlawinen nicht alle funktioniert hätten. Nein, das waren zwar die Phantasien, über die sie sprachen und diskutierten, wenn sie am Balkon saßen und Karten spielten und jemand fragte, ob die anderen auch immer noch damit rechneten, dass sie ein Warnhorn vernehmen oder eine Reihe von Schüsse hören würden und dann alle schlagartig ernst wurden und die Karten oder den Tisch anstarrten bis jemand einen verzweifelten Scherz machte, um die Atmosphäre zu lockern, worauf aber niemand wirklich erleichtert reagierte.
Was sie aber wirklich in ihrem Wesenskern beschäftigte, und was sie alle, jeder und jede Einzelne für sich, tief im Innersten versteckt behielten – eine Vorstellung, verwegen und drohend, aber heimlich gehütet und stetig genährt und weiter ausgestaltet – war die Frage, ob sich in den Wintermonaten wohl wieder etwas verändern und verschieben würde. Ob ihnen wieder dieses Ächzen und Grummeln den Schlaf rauben würde, wenn es manchmal zu einem alles durchdringenden Grollen anschwoll und an den vereisten Berghängen widerhallte. Und wie die Welt aussehen würde, in der sie dann aufwachten.