HOLZBODEN
Ernestine stellt den Schweinsbraten und den Senf zurück in den Kühlschrank, packt die Brote in Alufolie ein und bringt sie ihrem Mann, der laut telefonierend im Hof auf und ab geht:
„Rückzohlungsfrist hin oder her, du bist mei Bruada, donn wert ma dei scheiß Bank wohl an Kredit gebn, ha! Nix schaun, wos sich mochn losst, am Montog kumm i in die Filiale, donn mochma des fertig!“
Während ihr Mann sich immer mehr hineinsteigert, legt sie die Brote auf den Beifahrersitz und überlegt kurz, ob sie den Motor abstellen sollte. Wer weiß, wie lange das noch dauert, aber besser nichts riskieren. Also geht sie wieder zurück und hört noch, wie ihr Ernst schreit:
„Sobold i de Grundstücke parzelliert und vascherblt hob, konn i’s jo problemlos zruckzohln! Wurscht, mir segma uns donn eh im Zölt, bis späda!“
In der Küche schaltet sie das Radio ein, der Regionalsender bringt einen Bericht über eine Wallfahrt, unterbrochen vom Verkehrsfunk, und geistesabwesend streicht sie die Krumen von der Anrichte in ihre Hand und wirft sie ins Waschbecken. Diese Idioten, denkt sie sich, und der Meinige an vorderster Spitze dabei! Zeltfest! Eine grauenhafte Vorstellung, aber sie wird wohl hingehen müssen, schon wegen Ernsti, ihrem Enkerl. Der wird dann in seinem Kindertrachtenoutfit auf den Bierbänken herumturnen, den Bierschaum vom Opa trinken dürfen und schon dazugehören zu der ganzen Gesellschaft. Früh übt sich, wer einmal den Betrieb übernehmen will, wird Ernst sagen, und wer weiß, vielleicht wird er ja sogar einmal Politiker. Sie geht ins Schlafzimmer und legt ihr Dirndlkleid aufs Bett, dann beginnt sie, sich die lästigen, borstigen Haare am Kinn zu zupfen und sich ein bisschen die Augen zu schminken. Sie weiß, sie hat noch Zeit, bis sie gehen muss, und zum Kochen ist heute auch nicht. Ihr Mann und seine Brüder, der Fleischereibesitzer und der Finanzberater, werden im Festzelt Brathendl essen, Ernestine sieht es vor sich, wie das Fett ihnen aus den Mundwinkeln tropft, und nebenbei werden sie lautstark ihre Pläne besprechen, welcher Hof aufzukaufen sei, wer bald pleitegehen wird und mit welchem Beamten man wie umspringen müsse. Und sie werden prahlen, das weiß sie jetzt schon, auf ihre Leistungen anstoßen und über alle anderen schimpfen, Taugenichtse alle zusammen, werden sie rülpsen. Und die Dorfpolitiker werden mit dem jeweiligen Landesparteichef, der lächelnd und winkend aus seinem SUV steigen wird, nach dem Mittagessen auftauchen, grinsende Zweierteams in Tracht: einer, der die Leute kennt und weiß, wessen Hände geschüttelt werden müssen, und einer, der durchgeht und die Runden zahlt. Sie werden von Tisch zu Tisch gehen, Schultern klopfen und Witze machen, denkt sie sich, es wird sein wie immer. Der Pfarrer wird auch kurz vorbeikommen, seinen Hund am Tischbein festbinden, ein paar bekannte Gesichter gütig grüßen, aber nur die, die er auch am Vormittag in der Kirche durch seine halbverdunkelte, schmierige Brille gesehen hat, mit seiner schiefen Kopfhaltung wird er einmal in die Runde lächeln und dann sein Hendl essen. Die Musikkapelle, die originalen Irgendwas oder die fidelen SonstNochWer, werden alle halbe Stunde einen Tusch spielen für einen Dorfprominenten, der gerade das Zelt betreten haben wird, was ihnen sicher von irgendjemand zugeflüstert wird, wie Ernestine vermutet. Dann werden sie die Gläser heben, und alle singen der Gemütlichkeit gemeinsam ein Prosit, ungefähr alle zwei Stunden werden sie kurz Pause machen und Musik aus der Dose spielen lassen, was sie vielleicht sowieso den ganzen Tag machen - Musiker sind auch nur Menschen und haben Bedürfnisse, wird der Sänger sagen, in 10 Minuten geht’s weiter. Und die Luft im Zelt wird immer drückender und abgestandener werden, stellt sie sich vor, und wenn es dann dunkel wird, dann kommen die schwelenden Aggressionen hervor: die besoffenen Jungen werden zu schlägern anfangen und die betrunkenen Alten werden sie anfeuern und johlen oder selbst mitmachen, man kann ja wohl auch noch, wenn man will. Aber da bin ich hoffentlich schon daheim, denkt sie sich, ich muss ja den Ernsti ins Bett bringen, weil die Mama ja arbeitet. Die beschwipsten Pärchen werden sich immer unkontrollierter am hölzernen Tanzboden drehen, vielleicht wird irgendwer kurz darunter Zuflucht suchen und sich übergeben, vom Getrampel übertönt, soll schon vorgekommen sein. Den Kellnerinnen mit ihren vollen Tabletts wird auf den Hintern geklopft werden und sie werden scheinbar schelmisch darüber lachen, denkt sie sich, als sie ihr Kleid anzieht, und ich werde mir das alles nicht anschauen müssen, wie gut! Sie bindet sich die Schürze auf der richtigen Seite und blickt noch einmal an sich herunter, schön verkleidet bin ich, denkt sie sich, und wenn ich noch mein öffentliches Gesicht aufsetze, erkennt mich niemand mehr, nicht einmal ich selbst.
Ernestine steckt das elektrische Grablicht aus, das im Herrgottswinkel flackert, und lässt die Haustür hinter sich ins Schloss fallen.
DIE ANKUNFT
Die Leute waren aufgeregt. Im Laufe des Vormittags hatte sich eine beeindruckende Menschenmenge angesammelt; hunderte Fans und Schaulustige – das wöchentlich erscheinende Gemeindeblatt behauptete später, über tausend Wintersportbegeisterte seien an diesem Tag mit Privatautos und von der Gemeinde organisierten Shuttlebussen aus der Bezirkshauptstadt und den umliegenden Dörfern angereist – warteten in der kraftlosen Wintersonne auf die Ankunft des Helden. Das Gemeindeamt und das angeschlossene Kulturhaus lagen auf der Sonnseite des Tales, dort, wo der Schnee bereits zu schmelzen begonnen hatte und es an manchen Stellen in wenigen Wochen aper sein würde. Auf der gegenüberliegenden Talseite, der Schattseite, blieb der Schnee je nach Winter oft bis April liegen und erinnerte die Menschen fortwährend daran, dass sie in einem alpinen Hochtal lebten, in dem die Jahreszeiten noch bestimmender waren als andernorts. Aber in den letzten Jahren waren die Winter ja auch nicht mehr so wie früher gewesen.
Man hatte Heizstrahler aufstellen lassen, die das Festzelt aufwärmten, welches sonst nur zu den regelmäßigen Feierlichkeiten des ländlichen Jahreskreises bei Bedarf als Erweiterung des Kultursaales aufgestellt wurde. Das war vor allem beim Feuerwehrfest, zu Erntedank und zu Fasching nötig, und eben heute, an diesem historischen Tag. Die Leute gruppierten sich um die orangerot glühenden, an eine Mischung aus Pilzen und Straßenlaternen erinnernden Radiatoren, Plastikbecher mit Bier oder Glühwein in den klammen Fingern, und unterhielten sich über die bisherige Skisaison, über die Neuigkeiten im Dorf und manchmal über Überschriften, die sie in der Tageszeitung entziffert hatten. Der Bürgermeister, selbst nicht sonderlich sportlich aber an diesem Tag voller Elan, huschte, soweit man das bei jemandem seiner Statur sagen konnte, von Gruppe zu Gruppe und begrüßte die bekannten Gesichter, schüttelte manchmal herzlich eine Hand und wischte sich mit einem mit gehäkelten Spitzen verzierten Stofftaschentuch immer wieder den Schweiß von der Stirn. Schon vor zwei Wochen, als anlässlich des Olympiarennens ein sehr früher Frühschoppen organisiert worden war, hatte er es gewusst: der Beppi schafft das. Der macht das, und wenn er nicht Erster wird, dann wird’s zumindest ein Stockerlplatz, und wenn das nichts wird, dann war er wenigstens dabei – der olympische Gedanke zählt! Und dann wird’s auch im Dorf wieder aufwärts gehen, hatte sich der Bürgermeister gedacht, die Leute werden kommen, um mit dem Schlepplift zu fahren, mit dem der Olympiasieger als Kind Skifahren gelernt hatte und der sich noch wie damals ein paar hundert Meter einsam den Berg hinaufzog, flankiert von zwei Pisten, auf denen, wenn genug Schnee war, die Kinder der Umgebung und vereinzelte auch Touristen ihre Schwünge zogen. Jetzt musste nur alles richtig gemanagt werden, dann würde es wieder optimal laufen, und dann würden sie vielleicht endlich auch einen zweiten Lift bauen, und Schneekanonen würden sie brauchen!
Vor zwei Wochen hatte er es ja gar nicht glauben wollen. Niemand hatte wirklich damit gerechnet, doch die Hoffnung war groß gewesen. Und dann die erste Zwischenzeit! Ungläubig waren sie alle vor der Leinwand gestanden, die Münder offen, die Augen starr auf das Geschehen gerichtet. Der TV-Kommentator, ein ehemaliger Rennläufer des Nationalteams, hatte sich von den ersten Toren an immer mehr hineingesteigert, und als bei der zweiten Zwischenzeit das kleine Rechteck am unteren Bildrand immer noch grün leuchtete, hatte er vor Aufregung kaum mehr einen ganzen Satz herausgebracht – bui, der Hund haut sich obe; jetzt muaß er do Kantn geben und draufbleibn; do is die Strecken sakrisch schnöll; na schau, do knöpft er dem Norwega glott noch a poa Hundertstl ob – und schließlich hatte er bei der dritten Zwischenzeit begeistert aufgebrüllt, als der Vorsprung schon auf eine knappe Sekunde angewachsen gewesen war. Ab diesem Moment hatte es auch im Kultursaal kein Halten mehr gegeben. Die meisten Anwesenden waren schon um 7 gekommen – das Rennen hatte um halb 9 begonnen – und es hatte Freibier und Wurst gegeben; dementsprechend war die Stimmung von Anfang an gut gewesen, und als der Olympionike zur letzten Zwischenzeit gekommen war, hatte man den TV-Kommentator – jetz muaß er dos gonze nur ruhig hamfoahn und kane Schnitzer mehr mochn – kaum mehr gehört, da die Leute wild durcheinandergeschrien hatten. Bei der Zieleinfahrt hatte sich niemand mehr auf den Sesseln halten können, die einen waren sich um den Hals gefallen, andere hatten sich zugeprostet und man hatte sich gegenseitig zur Goldmedaille gratuliert, die Tatsache ignorierend, dass die nachfolgenden Läufer am Gesamtergebnis noch etwas ändern hätten können. Da dies aber GottSeiDank nicht geschehen war, hatte der Bürgermeister an diesem denkwürdigen Samstag und in den folgenden Wochen stolz lächelnd immer wieder verkünden können: wir sind Olympiasieger!
Und jetzt sollte es so weit sein: der Beppo kommt heim! Mit einem Bus des Nationalteams war er an diesem Vormittag durch das Tal chauffiert worden und hatte in jedem Dorf Halt gemacht, um herauszuwinken und ein paar Autogrammkarten zu verteilen. Die letzte Station würde sein Heimatdorf sein, also jenes Dorf, in das seine Eltern während seiner Hauptschulzeit gezogen waren, weil sie hier Grund geerbt hatten, und in dem er seitdem die Sommerferien verbracht hatte. Davon, dass er eigentlich kein Einheimischer, sondern ein „Zuagraster“ war, sprach an diesem Tag niemand, genauso wenig durfte erwähnt werden, dass er vielleicht gar nie den Schlepplift benutzt hatte, da er im Internat der Ski-Hauptschule gewohnt hatte. Machte jemand auch nur eine Andeutung in diese Richtung, wurde er unverzüglich streng angeschaut oder zurechtgewiesen: man sei ja nur neidig und man solle den anderen ihren wohlverdienten Erfolg – was der immer trainiert hat! – nicht vermiesen, denn was habe man selbst denn schon Außergewöhnliches geleistet? Habe man selbst etwas für die Allgemeinheit getan, etwas zur Gemeinschaft beigetragen? Na also, dann besser die Goschn halten!
Der Bürgermeister hatte mit dem Buschauffeur ausgemacht, er solle ihm Bescheid geben, wenn er aus dem letzten Nachbardorf losfahre, damit er dem Ehrengast höchstpersönlich als erster die Hand schütteln und ihn herzlich willkommen heißen kann – schließlich waren nächstes Jahr Gemeinderatswahlen! Da sich der Pfarrer trotz langer und hochgeistiger Diskussion – der Bürgermeister hatte seinen selbst gebrannten Himbeerschnaps mitgebracht – geweigert hatte, den roten Teppich aus der Kirche für diesen besonderen Anlass zu verborgen, hatten die Gemeindemitarbeiter eine Absperrung aus Buchenholzpfosten und roten Kordeln aufgestellt, die den Weg vom Parkplatz bis zum Eingang säumte und dem Helden einen gebührenden Empfang garantieren sollte. Ein Jubeln ging durch die Menge, als der Bus von der Bundesstraße einbog und genau so stehenblieb, dass sich die hintere Tür exakt am Beginn der Stufen zum Kulturhaus öffnete. Und da war er schon, ihr Beppo! Die Goldmedaille um den Hals und die Finger der rechten Hand zum Victory-Zeichen erhoben stieg er aus und winkte in seinem enganliegenden Rennanzug breit lächelnd in die Menge, seine olympischen Siegerski über der linken Schulter tragend. Der Bürgermeister hatte ihm einerseits Platz lassen wollen und hatte es andererseits als angemessen empfunden, wenn er den Athleten erst auf halber Höhe empfing und dieser somit zu ihm hinaufsteigen musste, immerhin war er ja der Bürgermeister und nicht irgendwer - nun musste er verärgert feststellen, dass ihm die junge Huber Michaela mit ihrem dicken Baby am Arm zuvor gekommen war und, nachdem sie unter der Absperrung durch geschlüpft beziehungsweise durchgerobbt war, ihr Smartphone zückte, um gemeinsam mit dem Helden ein Foto von sich und dem Nachwuchs zu machen. Diese Frechheit nahmen sich in Windeseile mehrere Menschen zum Vorbild und so musste der Skifahrer, bevor er weitergehen konnte, für mehrere Fotos sein gewinnendstes Lächeln zeigen, welches in den folgenden Tagen auf unzähligen social-media-Profilen zu sehen war mit Bildunterschriften wie: Wir sind stolz auf unser´n Beppi! Oder: Wir sind Olympiasieger! Oder: Unser Josef ist der Beste!
Schließlich schaffte es der Olympionike zum Bürgermeister, der schon etwas ungeduldig von einem Fuß auf den anderen getreten und dem Ehrengast sogar ein paar Stufen entgegengekommen war. Im Jubel der Menge war nicht zu verstehen, was er zum Sportler sagte, aber er schüttelte ihm längere Zeit die Hand, bevor er ihn umarmte. Es folgten die offiziellen Fotos für die Lokalpresse und die homepage der Gemeinde, bei denen der Skifahrer besonders darauf achtete, die Logos der vielen Sponsoren auf seiner Kleidung in die Kamera zu drehen, während der Bürgermeister Wert darauflegte, auf allen Fotos im rechten Halbprofil zu sein, seiner Schokoladenseite, wie er meinte. Gemeinsam gingen die zwei Männer dann die Stufen hinauf bis zur Wiese vor dem Eingang des Kulturhauses, wo bereits der Volksschulchor wartete. Der Bürgermeister hatte vom Techniker ein Mikrophon bekommen und drehte sich zu seinem Volk um, das nun, wenn es nicht schon längst an der Bar im Saal stand, etwa auf Augenhöhe mit seinen Schuhbändern war. Kurz und bündig bat er um Ruhe, damit die Kinder unter der Leitung von Frau Krabatschnig dem erfolgreichen Sohn der Gemeinde ein Willkommensständchen singen könnten. Dann drehte er sich zur Frau Lehrerin um und bat sie, zu beginnen, woraufhin diese mehrmals ihren Taktstock aufs Notenpult klopfte, sich räusperte und den Einsatz gab. Den Kindern war anzumerken, dass es ihnen egal war, dass irgendein alter Mann am Freitagabend seine Schi aufs Auto packt, um dann am nächsten Tag ins Stubaier Tal oder nach Zell am See zu fahren. Erst beim Refrain kamen sie so richtig in Fahrt, nicht nur, weil sie wie wochenlang geprobt die Schwünge eines Skifahrers imitierten, sondern vor allem, weil der kleine Marcel, der sich noch nie so lange hatte konzentrieren können, wild hin und her und extra in die andere Richtung als die anderen Kinder zu tanzen und das fröhliche „woahwoahwoah“ im Refrain aus voller Brust herauszubrüllen begann. Der Bürgermeister, der sich im Laufe der Darbietung immer mehr zu ärgern begonnen und nervöse Seitenblicke auf die Reaktion des Helden neben ihm geworfen hatte, bedankte sich mit einem grantig geknurrten Satz bei den Kindern und der Volksschullehrerin und drehte sich, gemeinsam mit dem Sportler, der der ganzen Szene wohlwollend lächelnd oder vielleicht ein bisschen hämisch grinsend, aber zumindest kommentarlos, beigewohnt hatte, um hundertachtzig Grad auf die andere Seite des Eingangs. Dort hatte inzwischen die Blasmusik der Jagdgemeinschaft Aufstellung bezogen, wie üblich in traditionellen, grün-braunen Trachtenanzügen, zur Feier des Tages aber zusätzlich ausgestattet mit Skibrillen und Schals, einige Jäger hatten sogar Skischuhe an. Die grotesk-paramilitärisch anmutende Musikkapelle fing sofort an, ein Medley ihrer drei größten Lieder zu spielen, und als sie geendet und sich verbeugt hatten, zogen der Ortsvorstand und der Sportler Seite an Seite in den mit Girlanden und großen Bildern aus verschiedenen Lebensabschnitten des Skifahrers geschmückten Festsaal. Dort brachte der Bürgermeister seinen Beppo zu einem Sitzplatz auf der Ehrentribüne, bevor er zum Rednerpult hochstieg und aus der Innentasche seines Jacketts einen zerknitterten Zettel mit der feierlichen Ansprache holte, an der seine Sekretärin die letzten Tage gearbeitet hatte. Er klopfte auf das Mikrophon, so dass es zu einer Rückkoppelung kam, und als Ruhe im Saal herrschte, blickte er über die Köpfe seiner Anvertrauten hinweg, so wie er es in der Schulung gelernt hatte, und begann zu proklamieren: Liebe Bürgerinnen und Bürger, lieber Josef, meine Freunde! Als langjähriger Vorstand unserer Gemeinde ist es mir eine besondere Ehre, unseren großen Sohn stolz begrüßen zu dürfen! Lieber Beppi: Ich kann mich noch genau erinnern, wie du als Bub damals mit deinen Skiern durchs Dorf gegangen bist Richtung Piste – und schon damals hat man dir angesehen: der hat einen Zug zum Punkt. Der will wohin, der weiß, wie es geht! Aber wer hätte das damals gedacht, dass du sowas dareißt! (An diesem Punkt begann seine Stimme bereits, ein bisschen zu kippen, so dass er sich kurz sammeln und sich den Schweiß von der Stirn wischen musste. Das Publikum wartete gespannt.) Wir sind eine Skination!!, donnerte der Bürgermeister in den Saal, und alle warteten gespannt, wie es weitergehen würde. Wir sind eine Skination, wiederholte der Bürgermeister, und du, lieber Josef, hast uns wieder würdig gemacht, hast uns unsere Ehre zurückgegeben. Der Bürgermeister wartete wieder. Er hatte Pausen für den Applaus eingeplant, penibel mit Linien am Zettel gekennzeichnet, aber niemand klatschte. Aus diesem Grund, meine Freunde, liebe Bürgerinnen und Bürger, haben wir beschlossen, unseren Beppi zum Ehrenbürger zu machen, und nicht nur das, nein, der Gemeinderat hat auch auf meinen Vorschlag hin zugestimmt, den Platz vor unserem Kulturhaus in „Josef…-Platz“ umzubenennen! Schließlich: tosender Applaus.
APFELBAUM
Der alte Gutsbesitzer war noch nicht lange tot, als der Verwalter den gesamten Besitz zum Verkauf ausschrieb. Die Erben des kleinen, quirligen Mannes mit dem diabolischen Grinsen hatten sich nicht einigen können, und so übernahm der Verwalter nach dem Unfalltod seines Dienstgebers die Weiterführung der Geschäfte. Nach und nach hatte sich aber gezeigt, dass der Verstorbene, der immer auf allen Festen anzutreffen war und der im gesamten Umkreis ob seiner leutseligen, direkten Art bei allen Menschen so beliebt gewesen war, einige Schulden angehäuft hatte. Darum und wegen einiger ungeklärter Geschäfte musste der Verwalter nun versuchen, so viel wie möglich vom Besitz zu retten und das erwirtschaftete Geld den Kindern und Enkeln zukommen zu lassen. Diese waren zwar einfache Leute, aber geizig und gierig, weshalb sie ihm vor Ende seines Dienstverhältnisses auftrugen, den größtmöglichen Profit aus dem Verkauf zu machen.
Niemand hatte sich auf die Anzeigen in den verschiedenen Zeitungen gemeldet, und der Verwalter befürchtete schon, ewig in dem abgelegenen und teilweise bereits baufälligen Anwesen bleiben zu müssen, dem Druck der immer wieder drängenden Erben ausgesetzt. Das Vieh hatte er bereits verkauft, die Felder verpachtet und den Fischteich leerfischen lassen, nun blieben neben dem Wald, in dem bereits einiges an Holz gefällt und abtransportiert war, so dass manche Hänge im Tal kahl und unansehnlich waren, nur mehr die Gutsgebäude: Das ehemalige Wohnhaus stand leer, so wie der Stall, durch dessen zerschlagene Fensterscheiben nachts der Wind pfiff, und nur aus dem kleinen Verwalterhäuschen am Weg zum Hof trat nun jeden Morgen der alte Mann, um seine gewohnte Runde zu gehen. Diese führte ihn vorbei an den ehemaligen Gärten, die brachlagen und verwucherten, an den Pferdekoppeln, in denen aus der vormals plattgetrampelten Erde bereits wieder die Grashalme wuchsen, vorbei an den nun von anderen bewirtschafteten Feldern und schließlich durch den Wald, am Bach entlang zu dem kleinen Jagdhäuschen, das versteckt in einer Lichtung lag. Dort rastete er üblicherweise kurz und überblickte das Tal, bevor er sich seufzend und grummelnd, manchmal leise mit sich selbst sprechend, wieder auf den Rückweg machte.
Eines Morgens, er hatte gerade den Katzen, die als einzige noch am Hof herumstreunten, gewässerte Milch gebracht, sah er über den staubigen Feldweg einen Geländewagen heranbrausen. Sich am Hinterkopf kratzend blickte er dem Auto entgegen, das dann aber an ihm vorbeiraste und erst im Innenhof, den Kies aufwerfend, abrupt stehen blieb. Langsam ging er in Richtung des schwarzen Gefährts (ein SUV der Marke BMW, wie er zu erkennen glaubte), aus dem gerade drei Menschen ausstiegen. Als er näherkam, erkannte er einen etwas älteren, weißhaarigen Mann und zwei jüngere Männer, alle in flotten Trachtenanzügen. Er grüßte sie vorsichtig.
„Des is zum vakaafn, ga?“ fragte der größere der beiden Männer. Er sah gröber aus als der andere Junge, hatte kurze Haare und trug am Gürtel ein Jagdmesser, dessen Griff aus einem Hirschgeweih geschnitzt war. Statt einer Krawatte hatte er ein fetziges Seidentücherl mit Trachtenmotiven umgebunden.
Bevor der Verwalter noch antworten konnte, fiel ihm der Jüngere bereits ins Wort: „Des taugt ma, des is a reht a schena großa Hof, du, wos wüllstn leicht hobn dafir?“
Zögernd nannte der Gutsverwalter einen Preis, der ihm in diesem Moment zu hoch erschien, aber nach einem kurzen Auflachen meinte der jüngere der beiden: „Ha, des is jo a Schmankale, amol Seebühne oda Wolleboll ausfolln lossn oda a neis büro in Mailond onmöldn und donn paast, ha? Schauma amol durch?“
Bestätigend grunzte der Ältere, und so ging der Verwalter der Gruppe voraus und zeigte ihnen das Anwesen. Nachdem sie bei den Ställen und der Scheune gewesen waren, gingen sie durchs Haupthaus, besahen sich dort alle Räume, die Rauchkuchl, die Kellergeschosse mit den Kreuzgewölben und die weitläufigen Dachböden, und kamen schließlich zu den Obstgärten.
Unter den Apfelbäumen verfaulte bereits die Ernte in den wuchernden Brennnesseln, die Wespen schwirrten herum, und nachdem sie die Mostpresse und die Destillerie angesehen hatten, meinte der Ältere, einen Fuß herrisch auf die Sonnenbank vor der Südseite des Hauses aufgestellt: „Letz is nit. Da Kölla wor reht feiht, wülda als auf da Sauolm eigentlich, hehe. Trotzdem taugts ma, komma losn de Bude, de Brennesln do im Gortn muaßt holt rupfn!“
„Kon ma Suppn draus kohn!“ Schaltete sich der weißhaarige Besucher kurz ein.
„Stimmt, host recht! Wos sentn des fia Äpfel do?“
Der Verwalter antwortete, es seien großteils Kronprinz-Rudolf, aber auch einige außerordentlich seltene Züchtungen, da auf dem Anwesen bereits seit hunderten Jahren Apfelzucht betrieben worden sei.
„Ah, i waß lei nit, Kronprinz taugnma nit, hätt i liaba wos Deitsches vielleicht, oba najo. Guat, du, wia kläan des noch im Büro, donn schauma wieda vabei und holma uns de Hittn, griaß di!“
Zügig gingen die drei zum Wagen, und so schnell, wie sie gekommen waren, verschwanden sie auch wieder. Der Verwalter sah ihnen verwirrt nach. Selbst als die aufgewirbelte Staubwolke sich bereits wieder gelegt hatte, stand er noch mit in die Hüfte gestützter Hand im Hof, umschmeichelt von den Katzen, die um seine Füße strichen.
FICHTENDICKICHT
Die Sonne folgte unbeirrt ihrer Bahn und tauchte die bewaldeten Bergrücken in ein rötliches Abendlicht, bevor sie sich vor der hereinbrechenden Nacht zurückziehen und hinter den Gipfeln verschwinden würde. Ernst fuhr den Geländewagen zügig über die geschotterte Forststraße, so dass in den Kehren die Steine seitlich wegspritzten, auf das Bankett kullerten und er sich am Lenkrad festhalten musste, damit sein schwerer Körper nicht zu sehr von den Fliehkräften hin- und hergeworfen wurde. Er wollte die Sache schnell erledigt haben, um für das Hauptabendprogramm wieder zuhause zu sein: eine Doku über die größten Baumaschinen der Welt, eine tolle Serie. Aber vorher noch hinauf.
Als er vor der Hütte hielt, mit seinen wurstigen Fingern behäbig die Tür öffnete und seinen Bauch am Lenkrad vorbei herausschob, hackte Ernstl gerade Holz. Der Knecht hielt kurz inne, grüßte in seiner wirren Art, nahm den schmutzigen Filzhut ab, um sich mit dem Handrücken durch den verschwitzten Haarkranz zu wischen, und fuhr dann bedächtig mit der Arbeit fort. Er hob einen Holzklotz auf, legte ihn auf den Hackstock, holte aus und ließ das Werkzeug niederfahren, so dass es das Holz mit einem kurzen, trockenen Geräusch, dass das ruhige Plätschern des Brunnens übertönte, teilte.
„Kumm her!“, rief Ernst, verärgert darüber, dass sein Untergebener ihn nicht beachtete. Ernstl legte die Hacke weg und näherte sich linkisch.
„Dei Lohn! Trog eine!“, brummte Ernst, und auf seine Handbewegung hin hob der Knecht die zwei Bierkisten aus dem Auto und trug sie, in jeder Hand eine, in die enge, verrauchte Stube, wo er sie neben die Kredenz stellte. Ernst nahm inzwischen die Stange Memphis Blue vom Beifahrersitz und folgte ihm schnaufend. Er legte die Zigaretten gemeinsam mit drei Hundert Euro Scheinen, die er aus seiner dicken, abgenützten Brieftasche zog, auf die schmierige, mit braunen und orangen Blumen verzierte Plastiktischdecke des Küchentisches.
„Murgn kummen die Jugo, mochts de Riebernik-Fratn fertig! I fia da fünfe aufa, de Bamln bring i a mit! I muass donn Zöltfest, wenn i se am Obnd holn kumm, is des aufgforstet! Kapisch!“ Ernstl stand im Eck neben dem Sparherd und nickte stumm zum Arbeitsauftrag. Ernst blickte ihn noch einmal streng an, erhob sich ächzend und ging, laut „Servas!“ rufend, hinaus.
Am nächsten Morgen hörte Ernstl den Wagen seines Arbeitgebers bereits lange, bevor er vor der Hütte hielt. Er grüßte mit einer kaum wahrnehmbaren Kopfbewegung, warf das Werkzeug auf die Ladefläche und kletterte auf den abgewetzten Beifahrersitz, nachdem er die in Alufolie eingepackten Jausenpakete im Handschuhfach verstaut hatte. Die Gastarbeiter, die auf den unzähligen kleinen Fichtensetzlingen auf der Ladefläche saßen und sich an den Bordwänden des Pickups festhielten, kannten das Prozedere. Nachdem ihr Chef sie auf einem Kahlschlag abgesetzt hätte, würden sie unter Aufsicht des Holzknechts, der mit einem Zigarettenstummel zwischen den Lippen in seinem kaum verständlichen Gebrabbel Befehle geben und herumschreien würde, in Zweierteams den Hang mit Bäumen bepflanzen: einer würde mit der Spitzhacke ein Loch graben, der andere den Baum hineinstecken und die Erde rundherum festtreten. Auch wenn sie ihren Vorarbeiter, der monatelang allein auf der Hütte lebte und dessen Sprache etwas verkümmert war, nicht ernstnahmen, sich manchmal leise lachend Witze und Bemerkungen in ihrer Muttersprache zuflüsterten, was Ernstl manchmal so rasend machte, dass er sie mit seinen stechend blauen Augen irre anstarrte oder ihnen sogar Werkzeug nachwarf, wussten sie, dass sie fleißig arbeiten mussten, denn hin und wieder war es vorgekommen, dass Ernst auf der anderen Talseite stand und sie mit dem Fernglas beobachtete, um zu überprüfen, ob sie auch arbeiteten und sich ihre Jause auch wirklich verdienten. Am Kahlschlag angekommen, luden sie die Bäume ab, schnürten die Schuhe und machten sich leise singend an die Arbeit.